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Experten empfehlen spätere schulische Selektion. | Rat zu Ausbau eines frühkindlichen Bildungssystems. | Wien/München. Einer der häufigsten Vorwürfe an das Bildungssystem, sowohl in Österreich als auch in Deutschland, lautet, dass die Bildungschancen ungleich verteilt sind. Der Zugang von Kindern und Jugendlichen zu höherer Bildung korreliert auffallend mit dem sozialen Status und dem Bildungsniveau ihrer Eltern.
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Zwischen familiärem Hintergrund und Schülerleistungen besteht ein starker positiver Zusammenhang, bestätigt auch das deutsche Bildungsforscherteam Ludger Wößmann und Gabriela Schütz in einem Beitrag für den "ifo-Schnelldienst" (21/2005), den das Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München herausgibt. Der Artikel beschließt die dort erschienene Reihe "Ökonomische Beiträge zur Schuldebatte" und rät, um Ungleichheiten von Bildungschancen zu reduzieren, zum Ausbau eines frühkindlichen Bildungssystems und einer späteren schulischen Selektion.
Wößmann und Schütz haben für ihre Studie eine gründliche Auswertung von bekannten internationalen Schülervergleichstests - wie Pisa, Timss und Iglu - vorgenommen. Dabei bevorzugen die Autoren andere Maße als etwa den elterlichen Bildungsstand. Laut Wößmann und Schütz hat sich die Anzahl der Bücher in einem Haushalt "als derjenige Einzelfaktor erwiesen, der die Leistungsunterschiede von Schülern am besten erklären kann". Ob eine Familie ein Regal oder zwei Regale mit Büchern besitzt, entspreche in der Testleistung der Kinder im Durchschnitt einem Unterschied von 25,6 Timss-Punkten, also ungefähr dem Lehrstoff eines ganzen Schuljahres.
Bildungsauftrag wichtig, nicht nur Betreuung
Im internationalen Vergleich gibt es deutliche Unterschiede: "Während Deutschland mit Großbritannien zu den Ländern zählt, in denen die Leistungen der Schüler am stärksten von ihrem familiären Hintergrund abhängen, weisen Länder wie Kanada und Frankreich wesentlich ausgeglichenere Bildungschancen auf", schreiben die Autoren. Österreich liegt im Mittelfeld, aber etwas näher an Deutschland.
Wenn der Familienhintergrund nicht so förderlich ist, hat das betroffene Kind geringere Bildungschancen. Die Chancenungleichheit lässt sich verringern, wenn möglichst viele Kinder frühkindliche Bildungseinrichtungen besuchen. Besucht nur ein Teil der Kinder solche Einrichtungen, wird die Ungleichheit jedoch womöglich noch verstärkt. Wenn aber alle Kinder einbezogen sind, sinkt der familiäre Einfluss um etwa 17 Prozent, und die Chancen für Kinder aus einem weniger gebildeten familiären Umfeld steigen.
Auch eine Verlängerung der frühkindlichen Bildungszeit führt zu weniger Ungleichheit. Aus der Sicht von Wößmann reicht es aber nicht, einfach mehr Kindergartenplätze bereitzustellen: "Deutschlands Kindergärten müssen einen Bildungsauftrag wahrnehmen, nicht nur die Betreuung von Kindern". Seine Worte gelten sicher nicht nur für Deutschland.
Eine zweite Quelle von Chancenungleichheit erkennen Wößmann und Schütz in der zu frühen schulischen Selektion, also der Verteilung der Kinder nach der Grundschule auf Hauptschule oder höhere Schule. Die Datenlage zeigt, dass eine spätere schulische Selektion die Chancenungleichheit der Schüler vermindert. Wenn man die Selektion um vier Jahre hinausschiebt, verringert sich der Einfluss des familiären Hintergrunds in ähnlicher Weise wie bei der Einführung eines flächendeckenden Besuchs frühkindlicher Bildungseinrichtungen. In der ifo-Analyse erweist sich Deutschland als das Land, in dem die Ungleichheit zwischen dem zehnten und vierzehnten Lebensjahr am stärksten zunimmt.
Ganztags oder halbtags ist unerheblich
Auf der anderen Seite haben die Autoren keinen systematischen Unterschied in der Chancengleichheit zwischen Ländern mit Ganztags- und Halbtagsschulsystemen entdeckt. Sie konnten auch keinen Beleg dafür finden, dass ein niedrigeres Leistungsniveau einer größeren Chancengleichheit diene. "Wenn Schulen alle Schüler zur Erreichung ihres höchsten Potenzials herausfordern, kann ein effizientes Bildungssystem auch gleichheitsfördernd sein", betont Wößmann.