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Faszination Fußball

Von Roman Braun

Gastkommentare
Roman Braun ist Autor und Psychologe in Wien.
© Foto Weinwurm

Der Gastgeber ist höchst umstritten - bricht trotzdem das WM-Fieber aus?


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Ausbeutung, Misshandlung, Korruption, Spionage. Katar ist einer der kontroversesten WM-Austragungsorte der Fußballgeschichte, dennoch werden viele Menschen die Spiele verfolgen. Warum ist das so?

Nun, die Tatsache, dass über den Austragungsort nicht die Fans entschieden haben, vermindert eventuell auftretende Gewissensbisse. Im Sinne dieser Argumentation sollte die Verantwortung auch nicht auf die Endkonsumenten abgewälzt werden. Ein weiterer Grund, warum viele trotz moralischer Bedenken die WM verfolgen werden, ist die räumliche Distanz - das in Vorderasien gelegene Emirat ist gute 5.000 Kilometer von Österreich entfernt -, die automatisch einen gewissen emotionalen Abstand erzeugt. Dass man die Performance der favorisierten Mannschaft und die Geschehnisse auf dem Rasen im Stadion vom eigenen Wohnzimmer aus verfolgt, lässt den eigentlichen Austragungsort in den Hintergrund rücken. Diese Umstände übertünchen für viele in Kombination mit der Begeisterung für den Sport die moralischen Bedenken hinsichtlich der bestehenden Missstände im Land.

Die Faszination am Fußballsport per se lässt sich durch mehrere massenpsychologische Faktoren erklären, die bereits Gustave Le Bon aufgezeichnet hat, ein Vorreiter von Sigmund Freud auf dem Gebiet der Massenpsychologie. Einerseits erfüllt das gemeinsame Mitfiebern in einer Menschenmenge tiefe Bedürfnisse nach sozialen Bindungen, die in unserer modernen Gesellschaft oftmals zu kurz kommen. Durch Social Media leben wir zwar in der ständigen Illusion der sozialen Bindungen, es handelt sich dabei aber lediglich um "Sozialattrappen".

Andererseits wohnt den Menschen ein Bedürfnis nach Sinn inne. Victor Frankl sprach diesbezüglich vom "Leiden am sinnlosen Leben", und auch hier zeigt sich, dass in der heutigen Zeit dieses Bedürfnis nicht ausreichend erfüllt wird. Viele sehen in ihrem Tun keinen Sinn. Doch dieses Gefühl lässt sich zumindest kurzzeitig minimieren, sobald man in einer Menschenmasse sitzt und im Chor eine Gruppe von - subjektiv als wichtig erachteten - Personen auf dem Rasen unterstützen kann.

Auch die symbolische Bedeutung von Fußball als Sport spielt eine ausschlaggebende Rolle. Es ist eine der meistausgeübtesten Sportarten der Welt, mit der sich viele Menschen, egal ob jung oder alt, identifizieren. Der Volkssport ist in die Sozialisation der meisten Bürgerinnen und Bürger eingebunden, da er durch private Fußballspiele und Vereine in der Nachbarschaft oder auch gemeinsames Ansehen von Spielen omnipräsent ist.

Eine weitere Rolle spielt die Angst beziehungsweise die Angstbewältigung. Durch die Identifikation mit einer Masse verlieren die Alltagssorgen an Gewicht. Ängste um offene Stromrechnungen treten in den Hintergrund, wenn vordergründig der Sieg der eigenen Mannschaft zählt. Diese Angstlenkung wirkt erleichternd, da nagende Existenzängste zeitweise ausgeblendet werden können. Ähnlich verhält es sich mit Wutemotionen. Der Ärger über eigene Unzulänglichkeiten ist psychisch sehr anstrengend, weshalb eine Kanalisierung nach außen gegen die gegnerische Mannschaft oder gegen Schiedsrichter Abhilfe verschaffen kann. Das zentrale Motiv gewaltbereiter Hooligans ist genau diese Kanalisierung. Bei keinem anderen Sport gibt es vergleichbare Gruppierungen. Außerdem muss man beim Fußball selbst nach einem verlorenen Spiel nicht zwingend als passiver Verlierer das Stadion verlassen, solange man sich einreden kann, dass nicht die eigene Mannschaft verantwortlich ist, sondern unfaire Schiedsrichter.

Gute Fußballer sind zudem gute Schauspieler. Geschickte Reaktionen auf Fouls haben oft positive Konsequenzen. Dieser Effekt des positiven Lügens und Betrügens überträgt sich als eine Art Absolution auf die Zuschauer: Kleine Lügen sind in Ordnung, moralische Standards verhandelbar. Dieser Effekt wirkt laut Studien sogar stärker als eine Beichte.