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Faszination Unterwasserwelt

Von Anita Ericson

Wissen

Mehr als zwei Drittel der Erdoberfläche sind mit Ozeanen bedeckt. Die Tiefen der Meere bergen erstaunliches tierisches Leben, das erst rudimentär erforscht ist.


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Es gibt keine zuverlässigen Schätzungen, wie viele Arten tatsächlich die Meere bevölkern. Keinesfalls weniger als 230.000 ist eine halbwegs seriöse Zahl. Dass die Ozeane als Lebensraum nur höchst unzulänglich erforscht sind, liegt wohl am extremen technischen Aufwand für penible Beobachtungen. Dunkelheit, Kälte und hoher Druck machen Menschen und Maschinen in der Tiefe zu schaffen. Umso bemerkenswerter sind die Lösungen von Mutter Natur, wenn es um die Besiedelung und Nutzung des reichlich vorhandenen Lebensraums unter Wasser geht.

Nehmen wir etwa die Robben. Tiere, die zwischen Land und Wasser leben. Sie paaren sich an Land, sie ziehen an Land ihre Jungen auf, sie kommen an Land, um zu ruhen. Deswegen haben sie auch Lungen und keine Kiemen. Andererseits ist das ein wenig seltsam für Geschöpfe, die ausschließlich unter Wasser Beute machen. Zwar sind sie vom Körperbau her prädestiniert für die gleitende Fortbewegung im Meer und auch die Augen sehen im Wasser besser als an der Luft - doch in punkto Tauchen sind sie als Lungenatmer auf spezielle Fähigkeiten angewiesen.

Der beste Taucher unter ihnen ist gleichzeitig die größte Robbenart: der See-Elefant, der bis zu vier Tonnen auf die Waage bringt. Er schafft es, rund zwei Stunden unter Wasser zu bleiben und dabei in Tiefen bis zu 1500 Meter vorzudringen. Dazu füllt er beim Abtauchen nicht bloß seine Lunge, sondern legt sich auch Sauerstoffvorräte in seinem Blut, das reich an roten Blutkörperchen ist, und in seinen Muskeln an, die sich damit beim Tauchgang quasi selbständig versorgen. Im Verhältnis zum Körpergewicht kann ein See-Elefant fünf Mal so viel Sauerstoff wie ein Mensch speichern.

Gleichzeitig verbraucht er auch deutlich weniger, da er sich ökonomisch bewegt und zusätzlich seinen Stoffwechsel verlangsamt. Der Herzschlag wird von 120 auf wenige Schläge pro Minute reduziert, der Viertonner See-Elefant kommt gar im Extremfall mit einem einzigen Schlag pro Minute aus. Zusätzlich drosselt er die Durchblutung jener Organe, die er gerade nicht braucht. Wie allerdings seine Nerven dem Druck, der in dieser Tiefe auf seinem Organismus lastet, standhalten, ist ungeklärt. Auch Pinguine, Meeresschildkröten oder Wale - allesamt Meereslebewesen, die Luftatmer sind - sind zu ähnlichen Leistungen fähig.

Auftrieb

Freilich besitzen die meisten Meeresbewohner statt Lungen Kiemen, können also Sauerstoff aus dem Wasser aufnehmen. Kleinstlebewesen tun das über die Haut - was auch die Seeschlange kann, die damit zu den raren Kreaturen zählt, die sowohl eine funktionierende Lunge haben als auch die Möglichkeit, Sauerstoff aus dem Wasser zu nützen. Sie kann tatsächlich weder an Land noch an Wasser ersticken! Dieses Kunststück bringt auch die Moschusschildkröte zuwege. Sie lebt in kühleren ozeanischen Gewässern, die zufrieren, dadurch kommt sie im Winter monatelang nicht an die Oberfläche. Lange dachten Forscher, auch sie würde über die Haut atmen, doch 2010 kam ein Team der Uni Wien zu einer Beobachtung: Man stellte fest, dass die Schildkröte über lappenähnliche, gut durchblutete Strukturen im Mund- und Rachenraum, die sogenannten Papillen, Sauerstoff aus dem Wasser aufnimmt. Sie atmet tatsächlich unter Wasser, ohne da etwas mit ihrer Lunge zu verwechseln.

Was eine weitere, dringliche Frage aufwirft: Trinken Fische? Und wenn ja, wieso vertragen sie das Salz? Fische haben, wie auch wir Menschen, eine leichte Salzkonzentration in ihrem Körperwasser. Die ist deutlich geringer als jene des Meeres, daher haben sie spezielle Mechanismen ausgebildet, das getrunkene Wasser zu entsalzen - oft über die Kiemen, manchmal über eine Drüse im Darm. Sie müssen deswegen trinken, weil sie über ihre Haut ständig Wasser ans Meer verlieren. Das hat mit dem Prinzip der Osmose zu tun, nachdem Wasser immer von einem Ort der niedrigeren Salz-Konzentration zum Ort der höheren fließt, wenn die beiden durch eine halbdurchlässige Wand getrennt sind - die Fischhaut. Daraus ergibt sich die auf den ersten Blick vielleicht erstaunliche Antwort: Meeresfische müssen aktiv trinken, um nicht auszulaufen - Süßwasserfische hingegen müssen in erster Linie Wasser lassen. Bei ihnen funktioniert das nämlich umgekehrt, da Süßwasser noch weniger Salz enthält als der Fisch in seinem Inneren.

Nicht alles, was im Meer schwimmt und wie ein Fisch aussieht, ist auch einer. Wale, zu denen auch die Delfine zählen, sind bekanntermaßen Säugetiere und nehmen als solche eine absolute Sonderstellung ein: Sie sind die einzigen Lebewesen mit Lungen, die ausschließlich im Wasser leben. Nachdem sie völlig anders beschaffen sind als echte Fische, rätseln die Wissenschafter bis heute, wie sie denn ihren Flüssigkeitsbedarf decken. Man nimmt an, dass sie einen Großteil über ihre Nahrung aufnehmen. Ob sie nun zusätzlich trinken und das Salz über ihre Nieren wieder ausscheiden oder ob sie Wasser über ihre Haut aufnehmen, die in diesem Fall als Salzfilter wirken könnte, ist noch Spekulation.

Wie aber schafft es ein Tier, das auf Luft zum Atmen angewiesen ist, auf Wasser zu schlafen und dabei nicht unterzugehen - oder schlafen Wale überhaupt? So ganz genau weiß man das natürlich auch nicht, doch der Schlaf der Delfine ist einigermaßen erforscht. Demnach verschläft der Große Tümmler gut ein Drittel des Tages, allerdings bettet er immer nur eine Gehirnhälfte inklusive einem Auge zur Ruhe. Die andere bleibt wach, um auf mögliche Feinde oder Hindernisse achtzugeben, die da mit dem Delfin eventuell am und im Meer treiben.

Das Problem, sich nicht festhalten zu können, haben andere Meeresbewohner auch. Es ist schon eine eigene Welt, in der es immer Bewegung und nie einen Stillstand gibt. Deswegen funktioniert der Schlaf bei Fischen auch anders als an Land: Sie kennen keinen Tiefschlaf, dösen mehr als richtig zu schlafen und das oft jahreszeitenabhängig mehr oder weniger intensiv. Manche ziehen sich in Höhlen zurück, manche bleiben trotz Schlafs aktiv in Bewegung, um nirgendwo anzudriften oder sonstwie in Gefahr zu geraten.

Sorgen abzusinken brauchen sich Fische indes keine machen. Sie besitzen eine kleine, mit Körpergas adjustierbare Schwimmblase, die für den exakt richtigen Auftrieb sorgt, sodass sie ihr Niveau im Wasser mühelos halten. Da der Auftrieb von vielen Faktoren abhängt, wie Tiefe, Temperatur oder Salzkonzentration, erweist sich ein flexibler Mechanismus wie eine rasch einstellbare Schwimmblase als optimal. Fehlt Fischen dieses Organ, müssen sie das durch ölige (und leichte) Flüssigkeiten im Körper sowie durch stetige Schwimmbewegungen kompensieren. Meister dieser immerwährenden Bewegung sind beispielsweise Makrelen oder Hochseehaie, die ansonsten in der Tiefsee versinken würden. Eigentlich ein undenkbarer Zustand: Niemals auch nur eine Sekunde richtig zur Ruhe kommen!

Der sechste Sinn

Der majestätische Walhai ist ein sanfter Riese.

Manchmal auf hoher See unterwegs ist der Walhai, der bis zu 14 Meter lang wird und damit der größte lebende Fisch ist. Obwohl er zu den Haien zählt, ist er kein eigentlicher Raubfisch; er ernährt sich von Plankton und Kleinstlebewesen, indem er einen Schwall Wasser ansaugt und die Nahrung herausfiltert. Dieser Methode bedienen sich auch einige Wale, was ziemlich kurios anmutet, wenn ausgerechnet die größten Tiere auf die kleinste Nahrung setzen. Ja sogar das größte aller Tiere, der Blauwal, ernährt sich sozusagen mikrobiotisch. Das gibt ihm genug Kraft und Energie, um rund 90 Jahre zu leben und dabei 30 Meter lang und so hoch wie ein zehnstöckiges Haus zu werden. Der Blauwal ist das größte und mit bis zu 200 Tonnen auch schwerste Lebewesen, das die Welt jemals gesehen hat.

Sein Verwandter, der auch nicht gerade kleine Pottwal, ist der Tiefseespezialist schlechthin; der Messrekord mittels Sonar liegt bei sagenhaften 2500 Meter Tiefe. Wie er das mit dem Luft holen und Druck standhalten hinbekommt, ist nur äußerst lückenhaft belegt, ähnliche Funktionsweisen wie bei den Robben sind jedenfalls mit im Spiel. Rätselhaft auch, warum er eigentlich so tief abtaucht - möglicherweise ist er auf der Suche nach für ihn schmackhaften Riesenkraken, von denen man überhaupt nur weiß, dass es sie gibt, weil man Reste von ihnen in Mägen von Pottwalen gefunden hat. Ansonsten bewohnen nur wenige Lebewesen Tiefen jenseits der 1000 Meter, wo kein bisschen Licht mehr durchdringt. Es ist dunkel, es ist kalt (nur knapp über null Grad), der Druck ist gigantisch und das Nahrungsmittelangebot mehr als begrenzt; in erster Linie gibt es das zu fressen, was von weiter droben langsam absickert. Der Lebensraum ist so geräumig und dennoch nur eine Nische für einige wenige Spezialisten.

Das meiste Leben spielt sich in helleren Tiefen ab. Für ihre Orientierung in diesem gespenstisch riesigen Raum besitzen Fische einen sechsten Sinn, der sie auch entfernte Dinge unmittelbar spüren lässt. Über feine, hochempfindliche Linien, die die Hautoberfläche überziehen, die sogenannten Seitenlinien, nimmt der Fisch feinste Druckunterschiede im Wasser wahr. So spürt er etwa, ob er seine Tiefe ändert, er gegen ein Hindernis driftet oder dass sich ein Feind von hinten nähert und kann blitzartig darauf reagieren. Vielleicht haben Sie schon einmal im Bildungsfernsehen einem Sardinenschwarm beim Hin- und Herwenden in geschlossener Formation zugesehen? Diese nahezu synchronen Bewegungen werden ebenso über diese Seitenlinien gesteuert wie möglicherweise elektromagnetische oder elektrische Wahrnehmungen, die der weiträumigen Orientierung dienen.

Ein intaktes Korallenriff beherbergt vielerlei Leben.

Wenn wir von der faszinierenden Unterwasserwelt sprechen, meinen wir oft die lichtdurchflutete, farbenfrohe Seichte eines tropischen Korallenriffs, das auch uns mit Taucherbrille vergleichsweise einfach zugänglich ist. Ein Korallenriff ist in seiner Gesamtheit als Ökosystem ein eigenes Wunder, getragen von kleinen, emsigen Tierchen, die aufgrund ihrer Sesshaftigkeit gerne mit Pflanzen verwechselt werden. Sie sind in ihrer Kleinheit so faszinierend wie der Blauwal in seiner Majestät. Die Rede ist von Steinkorallen, die in Kolonien vieler Einzelpolypen leben und unablässig damit beschäftigt sind, totes Material auszuscheiden und darauf wieder neues Leben aufzubauen. Im Laufe der Jahrtausende schaffen sie so gewaltige Riffstrukturen, die, wie vor Australien, sogar mit bloßem Auge vom Weltraum aus sichtbar sind. Besser als jedes menschliche Bauwerk.

Artikel erschienen am 4. Mai 2012 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S.4-9

Buchtipp: Zwanzig Bildgeschichten beschäftigen sich mit bizarren Meeresbewohnern und ihrem Verhalten, begleitet von kurzen Texten des Fotografen. Je ein Essay von Christoph Ransmayr und Wolf Prix ergänzen den faszinierenden Bildband.

Manfred Wakolbinger: "Unter der Oberfläche/Under The Surface", Springer Verlag, 39,95 Euro