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Formell funktioniert Südafrikas Demokratie. | Doch die Bevölkerung greift bei der Lösung sozialer Probleme noch immer zu Gewalt. | Interview mit Chris Landsberg, Leiter des Center for Policy Studies Johannesburg. | "Wiener Zeitung": Wirtschaftlich ist Südafrika zum Schwellenland aufgestiegen und wird gemeinsam mit Brasilien und Indien als zukünftige globale Wirtschaftsmacht genannt. Ist die demokratische Perspektive des Landes, mehr als 15 Jahre nach Ende des Apartheidsregime, ebenso positiv? | Chris Landsberg: Was die formelle Demokratie betrifft, macht sich Südafrika wirklich gut.
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Alle fünf Jahre finden Präsidentschaftswahlen statt, es gibt eine Vielzahl wahlwerbender Parteien und die Resultate werden von allen anerkannt, nicht so wie in Simbabwe oder Tansania.
Auf der anderen Seite aber erkennen die Südafrikaner Demokratie noch nicht als Instrument an, um Herausforderungen zu bewältigen oder Veränderungen zu erwirken. Das Volk sieht sich noch nicht als Souverän. Die Wahlbeteiligung ist hoch und auch sozial Schwache nehmen an den Wahlen teil, im Jahr 2009 wählten sie mehrheitlich Jacob Zuma vom African National Congress (ANC). Trotzdem hat die Mehrheit in Südafrika das Gefühl, nichts an der sozialen Situation ändern zu können.
Die dominante Machtposition des ANC ist aber demokratiepolitisch problematisch?
Die Allianz des African National Congress ist so brüchig wie nie zuvor. Die kurzfristige Abwahl von Ex-Präsident Thabo Mbeki hat dem Zusammenhalt geschadet. Bisher konnten die Oppositionsparteien diese Schwäche aber nicht ausnutzen. Grundsätzlich glaube ich, dass der ANC in der Regierungsfunktion weiter an Macht verlieren wird.
Mängel und Probleme bei "Service Delivery" - bei Dienstleistungen der staatlichen Verwaltung - sind häufig der Grund für Unruhen und gewalttätige Auseinandersetzungen in den Townships des Landes. Ist das autoritäre Apartheidsregime in der Köpfen der Menschen noch lebendig?
Es ist für viele überraschend, wie schnell in Südafrika soziale Unzufriedenheit in Gewalt ausartet. Man sollte dabei aber bedenken, dass Südafrika ein traumatisiertes Land ist. Wir haben Gewalt angewandt, um gegen das Apartheidsregime zu kämpfen. Und das Regime hat brutale Gewalt angewandt, um den Widerstand zu unterbinden. In Südafrika wurden jahrzehntelang politische Auseinandersetzungen mittels Gewalt gelöst. Sie war ein Instrument der Politik vor 1994. Das Problem ist, dass die soziale Ungleichheit in Südafrika nicht kleiner geworden ist, und viele kennen heute nichts anderes, als ihre Unzufriedenheit mittels Gewalt zu äußern.
Wird die "Enttraumatisierung" der Gesellschaft von den politisch Verantwortlichen vorangetrieben? Der Prozess scheint noch lange nicht abgeschlossen zu sein.
Unsere Demokratie funktioniert, ich sorge mich aber um unser Wertesystem und das soziale Verhalten in unserer Gesellschaft. Wir alle, Schwarz und Weiß, haben lange Zeit unter einem institutionalisierten, barbarischen Regime namens Apartheid gelebt. Diese Vergangenheit wird heute verschwiegen. Es gibt noch keine wirklich Aussöhnung in Südafrika, da sich vor allem die Täter weigern, über das Regime und ihre Taten darin zu sprechen.
Der Frühling 2009 wurde in Südafrika politisch überschattet von gewalttätigen Ausschreitungen gegen Ausländer in manchen Townships. Speziell Immigranten aus Simbabwe und Mozambique wurden verfolgt und ihr Eigentum zerstört. Wie ist dieser Ausbruch an Fremdenfeindlichkeit zu erklären?
Die Ausschreitungen wurden von vielen mit der allgemeinen Unzufriedenheit mit der staatlichen Versorgung und der schlechten Infrastruktur in ärmeren Townships begründet. Die Unruhen waren aber nicht nur ein bedauernswerter Denkzettel für die Regierung, es steckt psychologisch mehr dahinter. Wenn ein schwarzer Südafrikaner einen Schwarzen aus Mozambique tötet, ist das ein Ausdruck von Selbsthass. Der Hass auf sich selbst hat nicht erst 1994 begonnen, er wurde den schwarzen Südafrikanern lange Zeit indoktriniert. Doch auch darüber möchte heute niemand sprechen.
Waren denn die Regierungen von Ex-Präsident Thabo Mbeki beziehungsweise des heutigen Präsidenten Zuma an der Lösung der gesellschaftlichen Spannungen interessiert?
Im Gegenteil, wenn man die politischen Maßnahmen der letzten 16 Jahre analysiert, stellt man fest, dass vor allem die wirtschaftliche Entwicklung forciert wurde. Alle drei ANC-Regierungen waren vom Trickle-Down-Effekt überzeugt. Je mehr wirtschaftlicher Wohlstand geschaffen werde, desto eher würden auch die unteren sozialen Klassen davon profitieren. Heute ist Südafrika das Land mit der weltweit größten sozialen Ungleichheit. Zum anderen gibt es nirgendwo so viele Sozialhilfeempfänger wie in Südafrika. 13 Millionen Menschen bekommen in Südafrika eine staatliche Unterstützung, und dennoch leben heute, wie beispielsweise im Norden Johannesburgs, Cholerakranke und Minenbesitzer in enger Nachbarschaft nebeneinander.
Chris Landsberg ist Direktor des Zentrums für Politikforschung und Vorsitzender des Instituts für Politikwissenschaft der University of Johannesburg. Er hat mehrere Bücher zum Demokratisierungsprozess in Südafrika verfasst.