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Fehlstart: Hartz IV droht zu kippen

Von Ines Scholz

Politik

Begleitet von Demonstrationen startete in Deutschland gestern die umstrittene Arbeitsmarktreform Hartz IV. Die angekündigten Massenprotestaktionen blieben zwar aus, Anlass zu Unmut gibt es aber genug. So mussten wegen eines Computerfehlers gestern 150.000 der 2,8 Millionen Empfänger des neuen Arbeitslosengeldes II auf die Auszahlung der ersten Tranche warten. Außerdem gibt es Zweifel, dass das Hartz-IV-Gesetz mit dem Grundgesetz überhaupt vereinbar ist.


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Die größte deutsche Arbeitsmarktreform der vergangenen Jahrzehnte - die Zusammenführung von Langzeitarbeitslosen- und Sozialhilfe - wurde zum gewaltigen Fehlstart. Mehr noch als die peinlichen Pannen bei der Überweisung der Langzeitarbeitslosengelder macht der rot-grünen Bundesregierung zu schaffen, dass das gesamte Gesetz zu kippen droht. Im Dezember hatten elf Landkreise in Sachsen und Bayern Verfassungsbeschwerde dagegen eingelegt. Sie argumentieren, dass die - von den Gemeinden und den Bundes-Arbeitsagenturen gebildeten - Arbeitsgemeinschaften für die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe eine "unzulässige Mischverwaltung" darstellen. Gestern räumte erstmals auch der Bundestag ein, dass die Lex verfassungsrechtlich bedenklich sein könnte. Falls dies zutrifft, wären 2,66 Millionen Bescheide rechtswidrig. Auf den Bund käme ein Klagelawine zu. Nach Angaben des Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, gingen in den Agenturen bereits 75.000 Widersprüche gegen die Arbeitslosengeld-II-Bescheide ein. In 4.800 Fällen hätten die Antragsteller mit Verfassungswidrigkeit argumentiert. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement wies indes rechtliche Zweifel zurück: Hartz IV werde halten.

"Arbeit statt Kahlschlag"

In zahlreichen Städten versammelten sich gestern aus Protest gegen die geplanten massiven Einbußen für Langzeitarbeitslose 15.000 Menschen vor den Arbeitsämtern, darunter in Köln, Hamburg, Berlin, Nürnberg, Frankfurt und München. Die Zahl der Teilnehmer blieb aber weit hinter den Erwartungen der Organisatoren zurück. Auch wurde auf die zunächst geplanten Besetzungen der Bundesagenturen für Arbeit verzichtet - nicht zuletzt dank des großen Polizeiaufgebots. Lediglich in Berlin kam es zu kleineren Rangeleien, 15 Personen wurden verhaftet.

Beschwörung des Guten

Allen Kalamitäten rund um den Reformstart zum Trotz sprach der SPD-Arbeitsmarktexperte Klaus Brandner - wie viele seiner Parteikollegen - von einem "guten Tag für unser Land". Die 150.000 Langzeitarbeitlosen, deren Kontonummern an Banken und Sparkassen falsch weitergeleitet wurden und die aufgrund des Computerfehlers ihre Gelder nicht rechtzeitig bekamen, beruhigte er. Sie erhielten als Kompensation Schecks und Abschlagszahlungen. Auch der Vorstandsvize der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, redete den Start schön. Das neue Jahr laufe "fast normal an". Der SPD-Politiker Rainer Wendt wollte indes Änderungen am Hartz-IV-Gesetz nicht ausschließen. Er könne sich "durchaus vorstellen", dass es beim Punkt Minijobs Veränderungen geben werde. Auch bei der Angleichung des neuen Arbeitslosengeldes II Ost (331 Euro per Monat) und West (345 Euro) müsse man für Gespräche offen sein. Clement gab sich überzeugt, dass Hartz IV eine der entscheidenden Strukturreformen für mehr Wachstum sei. Diese Reform werde aber "nur gelingen, wenn Sie alle mit den Arbeitsagenturen vor Ort und den Kommunen zusammenwirken, damit wir so viele Arbeitssuchende so schnell wie möglich aus der Langzeitarbeitslosigkeit herausholen können", sagte er in Nürnberg.

Zusatzeinkünfte für Politiker sollen beschränkt werden

Auch ein zweites Thema dominierte gestern die deutsche Innenpolitik: Die umstrittenen Zusatzeinkünfte von Bundestagsabgeordneten. Als Konsequenz aus den Konzernzahlungen an mehrere CDU- und CSP-Politiker wollen Vertreter der Regierungsparteien künftig derartige Nebenverdienste auf die Diäten anrechnen - und zwar dann, wenn der Abgeordneter mehr als die Hälfte seines Einkommens durch andere Verdienste erwirtschaftet.

Zuletzt hatten zwei niedersächsische SPD-Landtagsabgeordnete für Schlagzeilen gesorgt, die neben ihren Diäten regelmäßige Gehaltszahlungen von VW erhalten. Kurz vor Weihnachten hatte CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer wegen Verwicklungen in eine Gehaltsaffäre des Energieriesen RWE seinen Hut nehmen müssen. Zuvor war der Chef des Arbeitnehmerflügels der CDU, Hermann-Josef Arentz, ebenfalls über eine Affäre um Gehaltszahlungen gestolpert.