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Feierabend war gestern

Von Sighard Neckel

Reflexionen

Burnout ist weit entfernt davon, nur ein individuelles Krankheitsschicksal zu repräsentieren. In dem Syndrom artikuliert sich ein verbreitetes Unbehagen an den gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen.


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Wer heute im Frankfurter Bankenviertel Sozialforschung betreibt und Gespräche mit Finanzexperten führt, stößt immer häufiger auf Berichte wie die eines 50-jährigen Investmentbankers, der Folgendes aus seiner Berufsbiographie erzählt:

"Nach sieben Jahren in der Zentrale war ich sehr müde und hatte Burnout. Da war ich so um die 40. Wir hatten früh Kinder gekriegt und natürlich geackert ohne Ende. Aber es war auch so, dass man sich dann erst so richtig selbst erlebt hat, beim Reisen zum Beispiel. Das ist natürlich toll, und dann die Goldkarte und die Platinkarte von Amex und so ein Zeugs. Dieses sich selbst erst spüren, wenn man so hyperaktiv ist. Sobald es dann still ist, wird es leer. Das ist bei vielen Investmentbankern so. Die brauchen diese Spannung des Deal-Machens - wir sind die Deal-Maker. Das führt zu immer mehr, mehr, mehr - bis man dann abstürzt. Also ich war total müde. Dann haben die Ärzte mir gesagt: Du musst sofort raus. Hab’ dann eineinhalb Jahre gebraucht. . ."

In den 1970er Jahren, als der Begriff "Burnout" von dem amerikanischen Psychologen Herbert Freudenberger geprägt wurde, wurde das Ausgebranntsein vornehmlich in Sozialberufen und bei Lehrerinnen und Lehrern diagnostiziert. Rastloser beruflicher Einsatz und Frustration über die geringe Anerkennung des eigenen Tuns standen typischerweise Pate beim körperlichen und psychischen Zusammenbruch.

Heute gilt Burnout als weitverbreitet in der gesamten Berufswelt - von Führungskräften der Wirtschaft über prominente Sportler, Autorinnen und Medienstars bis hin zu Wissenschaftern, mittleren Angestellten und Sozialhilfe-Empfängern. Zwischen 2004 und 2012 sind, wie der Bundesverband der Betriebskrankenkassen berichtet, die Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland wegen Burnout um das 18-Fache gestiegen. Das deutsche Bundesministerium für Arbeit und Soziales schätzt, dass allein auf psychische Überlastung und Burnout der Ausfall von 54 Millionen Arbeitstagen zurückgeht, eine Zunahme gegenüber 2001 von 60 Prozent.

Unter Berufstätigen zwischen 40 und 50 mit einem hohen sozioökonomischen Status ist Burnout am meisten verbreitet. In unteren und mittleren Schichten hingegen, bei Jüngeren und stärker bei Frauen als bei Männern, werden zunehmend Depressionen diagnostiziert. Nach aktuellen Studien des Berliner Robert-Koch-Instituts leiden rund acht Prozent der Erwachsenen an einer diagnostizierten Depression. Viele Experten gehen jedoch davon aus, dass sich dahinter ähnliche Symptome wie jene verbergen, die bei Patienten aus höheren Sozialgruppen als Burnout festgestellt werden.

Dennoch stellt Burnout keine "Modekrankheit der Besserverdienenden" dar, wie dies die Medien neuerdings gerne verbreiten, nachdem sie zuvor den publizistischen Wirbel um Burnout selbst erst angeheizt haben. In den Zustand einer totalen Erschöpfung der körperlichen und psychischen Kräfte geraten auch Arbeitslose, alleinerziehende Mütter und gewöhnliche Arbeitnehmer. Führungskräfte mögen ein Burnout als "Verwundetenabzeichen der Leistungsgesellschaft" (Wolfgang Schmidbauer) herzeigen können, das auf ihren besonderen Einsatz in der Berufswelt verweist, ohne sich dem Stigma einer Depression aussetzen zu müssen.

Dieser symbolische Vorteil ändert nichts daran, dass für die Entstehung eines belastungsbedingten Zusammenbruchs ein zumeist länger anhaltender Leidensdruck verantwortlich ist. In den oberen Schichten, die sich an den Schaltstellen der Wirtschaft oder im Zentrum von Organisationen befinden, stellt sich - wie das Zitat des Investmentbankers illustriert - Burnout nicht selten als plötzlicher Einbruch einer persönlichen Erfolgsgeschichte von Macht, Status und Selbstwirksamkeit ein, die mitunter als euphorisch erlebt worden ist. Demgegenüber resultiert die Erschöpfung des Durchschnitts eher daraus, dass die Nöte und Forderungen des Alltags, des Berufslebens und der Familienorganisation den betroffenen Menschen schließlich buchstäblich über den Kopf wachsen.

"Depersonalisierung"

Gleichwohl gehört Burnout nicht zu den medizinisch approbierten Krankheiten. Auch das neueste Verzeichnis von Krankheiten und Gesundheitsproblemen der Weltgesundheitsorganisation von 2013 (ICD-10) kennt Burnout allein als "Problem der Lebensbewältigung". Und in der Tat: Von einem akuten Burnout wird immer dann gesprochen, wenn sich eine emotionale Erschöpfung mit einer körperlichen Auszehrung verbindet und zu einem massiven Kollaps führt, der die Fortsetzung der bisherigen Lebensführung zumindest zeitweilig unmöglich macht.

Chronischer Stress über längere Zeiträume hinweg, ein anhaltendes Gefühl der Überforderung oder Überlastung sowie Enttäuschungen im Beruf werden als Ursachen für Burnout benannt. Für die Umwelt macht sich dies etwa bemerkbar in einer starken Reizbarkeit der betroffenen Personen und einer "Depersonalisierung" ihrer sozialen Kontakte, denen gegenüber sich Gleichgültigkeit, Distanz und Zynismus verbreitet.

In der Medizin mag die Frage, ob Burnout eine eigenständige Krankheit ist, die sich durch eindeutige Merkmale von körperlichen Erschöpfungszuständen, vom Ermüdungssyndrom oder von Depressionen unterscheidet, von großer Bedeutung sein. Die Sozialforschung indes, die sich für Burnout als ein zeittypisches Phänomen der modernen Lebensführung und heutiger Arbeitswelten interessiert, braucht sich zwischen "krank" oder "gesund", "normal" oder "pathologisch" nicht zu entscheiden. Wie Emotionen insgesamt ein Bindeglied zwischen Person und Gesellschaft sind, ein Vermittler zwischen dem Körper und dem Sozialen, so kommt auch der emotionalen Erschöpfung die soziologische Bedeutung zu, Auskunft über die Stellung des Einzelnen in seiner sozialen Umwelt zu geben, über Probleme und Konflikte zu informieren, die aus der jeweiligen Lebensführung entstehen.

Aus dem Blickwinkel der Soziologie stellt Burnout ein subjektives Leid dar, für das die medizinische Behandlungsdiagnose einer "Krankheit" nicht entscheidend ist, da sich in ihm über individuelle Belastungen hinaus gesellschaftliche Probleme des modernen Berufs- und Privatlebens dokumentieren. So sind sich medizinische, psychologische und sozialwissenschaftliche Experten auch weitgehend darin einig, dass Burnout ein meist arbeitsbedingtes Erschöpfungssyndrom darstellt, dessen Ursachen in den Belastungsfaktoren eines gesellschaftlichen Wandels zu suchen sind, der von dem Einzelnen in hohem Maße berufliche Einsatzbereitschaft, eine starke Identifikation mit der Arbeit, zeitliche Flexibilität, persönliche Eigenverantwortung und vermehrte Selbststeuerung bei der alltäglichen Lebensbewältigung einfordert.

Im Burnout-Syndrom artikuliert sich augenscheinlich ein weit verbreitetes Unbehagen an den Arbeits- und Lebensbedingungen einer Wettbewerbsgesellschaft, das sich in bestimmten Fällen und Lebensphasen zu einer Erschöpfungskrise steigert. Nicht einzelne Umstände beruflicher Belastung und Konkurrenz sind ursächlich hierfür, sondern das Zusammentreffen zahlreicher Stressfaktoren. In einer Arbeitswelt, die sich gegenüber dem Privatleben entgrenzt und alle subjektiven Energien und Motive einfordert, schlägt sich der zunehmende Wettbewerbsdruck in engmaschigen Leistungs- und Erfolgskontrollen nieder, die den Einzelnen dem Gefühl einer dauernden Bewährungsprobe aussetzen. Gepaart mit der Verdichtung und der Beschleunigung der alltäglichen Zeitorganisation sowie der Norm der permanenten Erreichbarkeit, bricht durch die digitale Kommunikation der Beruf weitgehend in die Privatsphäre ein - Feierabend war gestern.

Selbstzuständigkeit

Hohe Mobilitätsanforderungen bei gleichzeitiger Zunahme unsicherer und befristeter Beschäftigungsverhältnisse und die gestiegenen Ansprüche, die sowohl Arbeitgeber als auch Beschäftigte an die berufliche Tätigkeit richten, erhöhen den Druck, der auf dem alltäglich hohen Organisationsaufwand auch des Privat- und Familienlebens lastet. In der Arbeit und vielen anderen Lebensbereichen wird heute ein Art Selbstzuständigkeit erwartet, sodass man sich vom Verlauf des eigenen Berufswegs bis zum persönlichen Gesundheitsstatus und dem Schulerfolg der Kinder für alles selber verantwortlich fühlt. Dies hat vielfach zu einer "Verbetrieblichung" der alltäglichen Lebensführung geführt, der sich auf Dauer viele nicht mehr gewachsen sehen. Burnout ist weit entfernt davon, nur ein individuelles Krankheitsschicksal zu repräsentieren. Die Erschöpfung ist ein gesellschaftliches Leid und wirft die Frage auf, wie wir künftig leben und arbeiten wollen.

Gekürzte Fassung eines Textes, der in "Transit - Europäische Revue", Heft 46, "Krise Kritik Kapitalismus", erschienen ist.Sighard Neckel lehrt Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziale Ungleichheit an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. und ist Mitglied der Leitung des Instituts für Sozialwissenschaften. Er ist (mit Greta Wagner) Herausgeber des Bandes "Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft" (edition suhrkamp 2013).