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Felix Tretter

Von Ruth Pauli

Reflexionen

Der Psychologe und Mediziner Felix Tretter kritisiert die unzulässigen Reduktionen und medientauglichen Vereinfachungen der derzeitgen Hirnforschung und plädiert für eine umfassende Philosophie des menschlichen Geistes.


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"Wiener Zeitung": Führende deutsche Gehirnforscher sagen: Das Gefühl, als bewusst handelndes Subjekt Herr seiner Handlungen zu sein, ist bloß eine Illusion. Das Gehirn hat nämlich schon vorher entschieden. Folglich wäre der Geist das Gehirn. Felix Tretter: Nun, da muss man zunächst erklären, welche Experimente die Grundlage für diese Behauptung bilden. Versuchspersonen erhalten die Anweisung - was ja schon nichts mit freiem Willen zu tun hat - , in einem bestimmten Zeitraum - was eine weitere Einschränkung ist - auf einen Knopf zu drücken. Zweitens sollen sie sagen, wann genau sie den Entschluss dazu gefasst haben, und zwar indem sie sich die Zeigerstellung einer Uhr genau in dem Moment merken, in dem sie sich entschlossen haben, auf den Knopf zu drücken. Dabei zeigt sich, dass sie 300 Millisekunden vor dem Tastendruck bemerken: ich möchte die Taste drücken. Doch weitere 200 Millisekunden vor diesem bewussten Entschluss zeigt das EEG bereits eine Auslenkung, was man Bereitschaftspotential nennt. Indem man aber behauptet: mein Gehirn tut schon etwas, bevor ich noch weiß, dass ich etwas tun will, hat man in unzulässiger Weise extrapoliert und behauptet: Das Bewusstsein kommentiert erst im Nachhinein das, was das Gehirn ja schon getan hat.

Gemäß der Formulierung "Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun".

Mit diesem Satz wird die Kausalität umgedreht. Die Kritik daran lautet: die persönliche und individuelle Willensentscheidung, die mit dem zu tun hat, was wir auch im Strafrecht den freien Willen nennen, beinhaltet, dass ich mir alternative Möglichkeiten meines Handelns bewusst machen kann. Antizipationen, Phantasien, Imaginationen laufen meinen Handlungen voraus. Wenn ich mich aber einmal entschieden habe, dann läuft praktisch nur mehr ein Handlungs-Programm ab, es sind keine Willensentscheidungen mehr nötig.

Ein anderer kritischer Einwand an den Folgerungen aus dem geschilderten Experiment betrifft den Umstand, dass ich eine bereits gestartete Handlung immer noch hemmen kann. Es ist also völlig absurd zu sagen, es gibt keine willensgesteuerte Handlung - wir könnten dann ja zum Beispiel im Straßenverkehr auf neue Situationen gar nicht reagieren. Der dritte Kritikpunkt ist, dass die Versuchspersonen bei diesem Experiment genau instruiert werden, was sie tun sollen. Die wesentliche Willensentscheidung erfolgte genau zu dem Zeitpunkt, als sie zugestimmt haben, mitzumachen. Der Rest, das Experiment selbst, ist dann nur noch die Exekution von motorischen Programmen.

Die Hirnforschung zieht also aus ihren empirischen Befunden Schlüsse, die viel zu weit gehen?

Als experimentelle Wissenschaft greift sie geisteswissenschaftliche Themen an, übersieht dabei aber völlig, dass die Psychologie in den hundert Jahren ihres Bestehens eigene Befunde entwickelt hat, die nicht mit dem zusammenpassen, was einige pragmatische amerikanische Hirnforscher behaupten. Solcher Pragmatismus als erkenntnisphilosophisches Prinzip führt zur Verflachung des Themas.

Was erhebliche gesellschaftspolitische Auswirkungen haben kann - da die Aussage, dass es den freien Willen nicht gibt, ja auch den Verlust von Schuldfähigkeit mit einschließt.

Betrachtet man die Komplexität des Gehirns, ist es völlig absurd zu behaupten, man wisse, das Gehirn funktioniere deterministisch. Aber auf eben dieser These baut die Kritik der Hirnforscher an dem Konzept des freien Willens auf. Der freie Wille ist aber genau jenes Konstrukt, das wir aus den geisteswissenschaftlichen Debatten seit Descartes, Kant etc. gewonnen haben und das die Grundlage unserer sozialen und unserer Rechtsordnung ist. Der Wille ist zwar von der Person abhängig, aber sie verfügt doch über Freiheitsgrade, bestimmte Handlungen auszuwählen. Die Psychologie des Willens zeigt klar, dass Willensprozesse durch Phasen des Abwägens geprägt sind. Erst wäge ich ab, dann entscheide ich, womit Planung verbunden ist, der nächste Schritt betrifft die Umsetzung der Handlung. Dann folgen die Kontrollphase und die Bewertungsphase. Das kann in der Praxis in Sekundenschnelle ablaufen, kann sich aber auch über Tage und Wochen erstrecken. Bei fundamentalen Entscheidungen werden diese Phasen x-mal durchlaufen.

Deswegen darf man solche simplen Experimente, so interessant sie auch sein mögen, nicht überinterpretieren. Die aktuelle Debatte über die Existenz des freien Willens ist nicht auf dem neuesten Stand der Philosophie des Geistes. Und spiegelt auch nicht die empirische Befundlage der Entscheidungspsychologie wider. Es herrscht heutzutage eine Hegemonie der Neurobiologie, die sagt: Wir wissen, was der Mensch ist - er ist nicht mehr als sein Gehirn. Dieser Reduktionismus zeichnet jedoch nur eine Karikatur des Menschen. Schließlich hat noch niemand körperlos, bloß mit dem Gehirn kommuniziert.

Sie werfen also den Hirnforschern vor, ihre - vielleicht nur vorläufigen - Ergebnisse zu früh als Wahrheiten der Öffentlichkeit zu präsentieren?

In der Hirnforschung wird seit einiger Zeit viel zu früh öffentlich kommuniziert, bevor man überhaupt noch eine Theorie entwickelt hat. Und die Befunde werden viel zu weitläufig interpretiert. Zudem erweisen sich in dieser Debatte manche Akteure als sehr mediengewandt. Vieles läuft dann über die Intuition und die Bereitschaft jener Menschen, die zwar von einer gewissen Areligiosität, hingegen von Wissenschaftsgläubigkeit geprägt sind. Die Philosophie ist offensichtlich nicht in der Lage, den Hirnforschern die wirklich wesentlichen Fragen zu stellen. Das ist freilich auch ein Problem der spezifischen Fachsprachen. In der interdisziplinären Diskussion und in der Öffentlichkeit schlägt man auf Seiten der Hirnforschung gerne einen väterlichen Ton an, wenn man behauptet: "Das Wissen dieser Welt residiert in der funktionellen Architektur des Gehirns." Man kann sich darunter irgendetwas vorstellen und denkt sich: das ist genial. Die Gehirnforschung verfügt über so viele Daten, dass sie jede Woche neue Sensationen verkünden könnte. Die Neurobiologie hat aber bisher noch keine Wissenschaftstheorie entwickelt. Und deshalb hat die methodische Selbstreflexion der Hirnforschung noch gar nicht stattgefunden. Trotzdem kommuniziert sie selbstbewusst mit der Laienwelt.

Es gibt, wie man zuletzt bei der Klimaforschung deutlich gesehen hat, auch einen Zusammenhang zwischen sensationellen Ergebnissen, die kommuniziert werden, und der Zuteilung von Forschungsgeldern.

Ja, wo die Wissenschaft Marketing machen muss, um eine Legitimation zu erlangen, nimmt man es mit den Begriffen nicht so genau. Es ist eine gute Geschäftsidee, extern zu kommunizieren, weil Millionen Euro an öffentlichen Geldern großzügig ausgegeben werden. Deutschland hat eben die finanziellen Ressourcen, in mehreren Instituten große bildgebende Maschinen aufzubauen. Und so hat man Daten generiert, deren Nutzen für die Sponsoren offensichtlich ist.

Warum protestiert denn niemand im Wissenschaftsbereich dagegen - es gibt ja auch viele "vorsichtigere" Gehirnforscher?

Jene, die dagegen sind, kommen nicht zu Wort. Ich habe kürzlich in einer psychiatrischen Fachzeitschrift zehn Fragen an die Hirnforschung gestellt. Zum Beispiel die: Glauben Sie, dass es einen Geist gibt, ja oder nein? Wenn man nämlich sagt, es gibt keinen Geist, dann sind alle weiteren Überlegungen zum Geistigen ohnehin egal.

Und was sagen Sie selbst?

Ich bin als Mediziner und Nervenarzt daran interessiert herauszufinden, wie beschaffen die Korrelate von psychischen Prozessen im Gehirn sind, die bei Krankheiten auftreten und die ich therapeutisch beeinflussen kann. Ich möchte näher an diese Kabelstränge herankommen, die mit dem Psychischen verbunden sind. Ich sage aber nicht, dass sie identisch sind. Ich bin ein kritischer Sympathisant der Hirnforschung. Aber je mehr ich mich mit den Texten und Äußerungen aus diesem Wissenschaftsbereich beschäftige, desto bestürzter bin ich. Was wir brauchen, ist eine Qualitätssicherung von Aussagen, indem man überprüft: Was von dem, das behauptet wird, ist vertretbar und was nicht? Es müssen auch die verrücktesten Ideen geäußert werden können, aber wenn sie in der Öffentlichkeit so ankommen oder verstanden werden, als ob sie Wahrheiten wären, dann ist das ein Irrweg. Was wir hier erleben, ist der Verlust eines integralen Menschenbildes. Die empirische Wissenschaft untergräbt das selbstreflektorische Menschenbild der Philosophie, scheinbar mit Berechtigung - aber die Philosophie hinkt leider weitgehend hinten nach.

Wird es nicht auch gesellschaftspolitische Konsequenzen haben, wenn man den Wahrheitsanspruch den Neurobiologen überlässt?

Ja, genau. Die Anwendung von bildgebenden Verfahren bei Gerichtsprozessen, bei der Vernehmung von Angeklagten ist aber höchst problematisch. So ähnlich wie die Anwendung von Lügendetektoren, von denen jeder Psychologe weiß, wie problematisch deren Ergebnisse sind. Das alles kommt von der Generalisierung: Man hat die Ergebnisse von nur 15 oder 20 Versuchspersonen, und behauptet aber, diese würden für sechs Milliarden Menschen gelten. Man müsste unbedingt eine wissenschaftsphilosophische, kritische Begleitung der Neurowissenschaften - etwa als "Neurophilosophie" - institutionalisieren.

Könnte das die Verbreitung falscher Erkenntnisse verhindern oder eindämmen?

Wenn wir ein Gehirnbild betrachten und dort rote und blaue Areale sehen, sofern jemand an Liebe denkt oder an Schokolade, schließen wir daraus in rein strukturbezogener Weise: An diesem Ort im Gehirn "sitzt" die Liebe, an jenem der Glaube. So eine Vorstellung ist sehr naiv, wird aber propagiert. Um wirklich zu verstehen, was in uns vorgeht, müssten unsere Begrifflichkeit und unser Denken funktionell orientiert sein. Die Gehirnforschung hat aber nur eine Riesenmenge von Daten produziert, die sie im Grunde genommen gar nicht genau versteht.

Bringt Ihnen als Arzt an einer der größten psychiatrischen Kliniken Deutschlands der Fortschritt in den Neurowissenschaften etwas? Und bringt er Ihren Patienten etwas?

Als Kliniker bin ich von den ständigen Botschaften aus der Wissenschaft und der Industrie: "Wir wissen jetzt, wie das Gehirn funktioniert" enttäuscht. Mir als Nervenarzt, der in seinem Leben schon rund 40.000 Menschen behandelt hat und es tagtäglich mit Suchtkrankheiten, Schizophrenien, Depressionen oder Altersdemenzen zu tun hat, hilft die Hirnforschung in der Praxis, bei Diagnose und Therapie nicht sehr viel. Es ist natürlich klar, dass die Hirnfunktion eng gekoppelt ist mit geistigen Funktionen. Aber wie genau diese Koppelung beschaffen ist, das kann man nicht so klar sagen, wie viele Neurobiologen es öffentlich behaupten.

Es wäre notwendig, die Systemtheorie und die Neurokybernetik als theoretische Neurowissenschaft im klinischen Bereich zu implementieren. Dazu müsste man mathematische und Computermodelle entwickeln. Dafür engagiere ich mich, deshalb organisiere ich alljährlich internationale Tagungen mit dem Ziel, auf der molekularbiologischen und elektrophysiologischen Ebene Gehirnprozesse zu verstehen im Hinblick auf Sucht, Depression, Schizophrenie usw.

Bei den überinterpretierten Aussagen muss man nicht nur wegen der Forschungsmittel und den gesellschaftspolitischen Folgen vorsichtig sein, sondern...

...auch deshalb, weil es Auswirkungen hat auf das gesellschaftliche Bewusstsein der Menschen von sich selbst. Das heißt, hier wird ein materialistisches Menschenbild vorbereitet. Wir leben in einer Zeit, wo man einen neuen Kant bräuchte, der sagt: Das sind die Grenzen unserer Erkenntnis, hier fängt die Metaphysik an. Auch die Physik hat Grenzen der Erkenntnis und der Aussagekraft - es gibt einen großen Bereich des Nichtwissens, des Noch-nicht-Wissens und auch einen Bereich des Nicht-wissen-Könnens. Diese prinzipielle Einsicht muss auch in der Neurowissenschaft so genau herausgearbeitet werden, dass nicht jeder Neurowissenschafter einfach sagen kann: Alles ist determiniert. Dann wäre ja übrigens auch diese seine Aussage determiniert. Dann wäre er nicht mehr als ein Automat, der seit dem Urknall darauf vorprogrammiert ist, diesen Satz zu äußern. Bemerkenswert, aber sehr zweifelhaft.

Wo ist also die Wahrheit, wo die Wirklichkeit? Damit sind wir wieder bei Platon und seinem Höhlengleichnis: die in der Höhle Liegenden wissen nicht, ob die Schatten an der Wand Wirklichkeit sind oder nur Abbildungen. Das Grundproblem, wie die "wirkliche Wirklichkeit" zu finden sei, wird von den Gehirnforschern nicht hinreichend durchdacht. Sie behaupten als Gehirne, die Gehirnforschung betreiben, gegenüber Subjekten, die ihr Erleben analysieren, im Besitz der wahren Wirklichkeit zu sein, ohne freilich diese privilegierte Erkenntnisposition begründen zu können.

Also glauben sie sich nicht nur im Besitz der Wahrheit, sondern auch in dem der Wirklichkeit?

So lautet ihr Hauptanspruch. Die Hirnforscher behaupten: Der freie Wille ist eine Illusion. Woher wissen sie das? In der Hirnforschung gibt es den Begriff Illusion nicht. Wenn der Hirnforscher sagt, er reduziert alle Phänomene auf die Physik, dann muss er das Bewusstsein in Kilogramm, in Volumen, in elektrischem Widerstand etc. ausdrücken können. Das sind Kategorien der Physik - Masse, Energie, Geschwindigkeit, Spannung.

Das Bewusstsein müsste in diesen Kategorien hinreichend fassbar sein. Das geht aber nicht, es lässt sich nämlich nur durch Introspektion voll erfassen. Ist das Bewusstsein deshalb eine Illusion?! Die Hirnforscher mit ihren großen Maschinen haben das kleine Gehirn untersucht und wissen jetzt, wo die Seele sitzt oder dass es überhaupt keine Seele gibt - das alles ist eine bloße Inszenierung. Schon deswegen sind die Universitäten aufgerufen, flankierende Programme für Neurophilosophie einzuführen und einen inter-, multi- und transdisziplinären Dialog zum Thema "Ist der Mensch mehr als sein Gehirn oder nichts anderes als sein Gehirn?" ins Leben zu rufen.

Zur Person

Felix Tretter: Der 1949 in Kärnten Geborene hat eine eindrucksvolle Liste akademischer Grade, die einen bemerkenswerten Auslöser haben: den Präsenzdienst. Da fiel er einem Schinder in die Hände und wurde auch noch mit Stubenarrest belegt. Die hochkochenden Gefühle - Demütigung, Zorn, Wut - lassen in ihm die Frage aufkommen, wie der Mensch funktioniert - und damit war die Entscheidung für die Studienwahl gefallen.

In einem Studium irregulare bewältigte Tretter Psychologie, Medizin und Soziologie in nur zehn Jahren in Wien und München. 1999 habilitiert er sich für klinische Psychologie und arbeitet mehrere Jahre lang als Forscher (experimentelle Hirnforschung) am Max Planck-Institut für Psychiatrie. Er lehrt an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, forscht, ist aber in erster Linie praktizierender Arzt. Seit 1992 ist er Chefarzt der Suchtabteilung am Isar-Amper-Klinikum München. Aufsehen erregte er Mitte der neunziger Jahre durch den "Turbo-Entzug" - der nach einem Tag in Vollnarkose die Abhängigen in einer einzigen Woche opiatfrei macht.

Die Kombination aus Klinik- und Forschungsarbeit gepaart mit seiner multidisziplinären Ausbildung lässt Tretter nicht ruhen, den Dialog zwischen den Wissenschaften in Schwung zu bringen. Auch in Wien initiierte Tretter eine interdisziplinäre Diskussion "Homo Neurobiologicus" (Beiträge unter www.uni-klu.ac.at/wiho/veranstaltungen), die im kommenden Frühjahr fortgesetzt wird. Tretter ist auch Autor zahlreicher Bücher, zuletzt "Ökologie der Person. Auf dem Weg zu einem systemischen Menschenbild." Pabst Verlag, Lengerich 2008, 272 Seiten.

Ruth Pauli lebt in Wien und ist als Autorin von Sachbüchern und als freie Journalistin für Printmedien tätig.