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Feministische Wissenschaft

Von Peter Markl

Reflexionen
Evelyn Fox Keller während einer Konferenz in Spanien.
© Foto: FECYT

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Als sie im vergangenen November das letzte Mal in Wien einen Vortrag hielt, hatte sich in einem Hörsaal der Theoretischen Physik eine ungewöhnlich gemischte Zuhörerschaft eingefunden. Da saßen Theoretische Physikerinnen neben Wissenschaftshistorikern, Biologinnen neben vielen Gender-Spezialistinnen. Schließlich sprach eine der Ikonen dieser Wachstumsbranche, die führende Autorität auf dem Gebiet der "feministischen Wissenschaftskritik". Sie ist heute emeritierte Professorin für Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie am Massachusetts Institute of Technology (MIT), dorthin gelangt auf einem wahrlich abenteuerlichen Weg: Evelyn Fox Keller (in Folgenden EFK genannt).

EFK wurde 1936 als Tochter armer einfacher Eltern, die als Juden aus Russland emigriert waren, in New York geboren, wo sie auch in die öffentlichen Schulen ging. Als Elfjährige begeisterte sie sich für Psychoanalyse. Eine Karriere in den Naturwissenschaften versprach sozialen Aufstieg und frühe Unabhängigkeit vom Elternhaus. Sie besuchte das Queens College, wo schon im ersten Jahr ein Mathematikprofessor auf ihr mathematisches Talent aufmerksam wurde. Er riet ihr, Physik zu studieren. Eine Reihe von Stipendien machte es ihr dann möglich, an die Harvard Universität zu gehen, wo sie sich auf Theoretische Physik spezialisierte.

Das war damals eine fast ausschließlich männliche akademische Welt, so dass EFK es sich nicht zutraute, in dieser Umwelt zu reüssieren. Nach ihrem Undergraduateabschluss gönnte sie sich mit ihrem Bruder einen Urlaub in Cold Spring Harbor, wo sich auch das Long Island Biological Laboratory befindet. EFK lernte einige Leute aus diesem Laboratorium kennen, wo eine ganz andere akademische Kultur gepflegt wurde, als unter den Theoretischen Physikern in Harvard. Man bot der mathematisch versierten jungen Frau an, doch an einem großen molekularbiologischen Experiment mitzuarbeiten. Die Arbeit trug experimentelle Techniken zu ihrer Dissertation bei dem späteren Chemie-Nobelpreisträger Walter Gilbert an der Harvard Universität bei.

Eine Musterkarriere

Bis dahin war ihr Weg genau einem Erfolgsrezept gefolgt: sie war hochintelligent und hochmotiviert, ihre Spezialbegabung für Mathematik war von einem exzellenten Lehrer erkannt worden. Er gab ihr den Rat, das abstrakteste Fach, für das sie sich interessierte, möglichst früh zu studieren. Ihr Talent wurde rechtzeitig aus öffentlichen Mitteln gefördert, sie lernte, sobald sie eine interessante Gesprächspartnerin geworden war, Weltklassewissenschafter auch persönlich kennen und konnte in deren Labors und ihren Seminaren ihre Art, an Probleme heranzugehen, erleben.

Das galt besonders für das Cold Sping Harbor Laboratorium, an dem Ort, wo sie die Ferien verbrachte. Dieses Laboratorium war damals das Mekka der Molekularbiologie und Molekulargenetik. EFK wurde dort schnell als Gesprächspartnerin ernst genommen, vielleicht auch deshalb, weil einige derjenigen, die dort an biologischen Themen arbeiteten, selbst auch nicht als Biologen ausgebildet worden waren, sondern wie EFK aus erstklassigen Physikschulen stammten und von dort das Methodenbewusstsein der Physik mitgebracht hatten, so dass EFK, obwohl nicht vom Fach, schnell in die Arbeit einbezogen wurde. Auch der Mann, bei dem sie dissertierte, hat später den Nobelpreis für Chemie bekommen, obwohl er ein Harvard Physiker war. Als EFK nach Cold Spring Harbor in die Ferien aufbrach, schleppte sie einen Koffer mit den Büchern Sigmund Freuds mit sich, weil sie ihre Harvard Zeit als Intermezzo betrachtete; sie wollte Medizin studieren und sich dann der Psychoanalyse widmen.

EFK wusste damals in Cold Spring Harbor auch genau, was sie keinesfalls wollte: nämlich so leben wie eine Frau, die sie in Seminaren traf und auf ihren einsamen langen Spaziergängen sah: Barbara McClintock. EFK war von deren wissenschaftlicher Existenz fasziniert und beschloss, über diese Frau ein Buch zu schreiben. Entgegen einer unter Gender-bewegten Frauen gängigen Legende war Barbara McClintock damals bereits auf dem Weg zu weltweiter Anerkennung und nicht mehr nur die "odd woman out", von der man vermutete, sie sei entweder etwas verrückt oder genial. Während damals die Cold Spring Harbor Stars noch der Ansicht waren, dass das wesentliche Problem der Molekulargenetik die Erklärung der Stabilität der Genstruktur sei, hatte McClintock in ihren Arbeiten über die Mais-Genetik bereits gezeigt, dass diese Stabilität keine Folge der molekularen Statik ist, sondern ein Endprodukt komplexer dynamischer Prozesse. Sie hat für ihre Arbeiten nur fünf Monate nach dem Erscheinen von EFK’s Buch 1983 den Nobelpreis erhalten.

EFK unternahm dann einen sehr entschiedenen Versuch, dem privaten Schicksal von Barbara McClintock zu entgehen: sie traf den Mathematiker Joseph Bishop Keller, sie heirateten und hatten in den nächsten Jahren zwei Kinder. Doch das ging nicht gut, die Ehe wurde geschieden und EFK war unter die im akademischen Umfeld häufigen alleinerziehenden Mütter geraten.

In anderer Hinsicht blieb sie jedoch gerade unter den sich mit Gender-Fragen in der Wissenschaft beschäftigenden Feministinnen außerordentlich. Ihre naturwissschaftlichen Kenntnisse, verbunden mit klarem Denken und der Fähigkeit, auch klar schreiben zu können, haben ihr unter den Experten großen Respekt und Bewunderung eingetragen. John Maynard Smith, einer der führenden Evolutionstheoretiker der letzten Generation, schrieb in einer Besprechung ihres einflussreichen Buchs "Das Jahrhundert des Gens": "Sie hat ein bewundernswertes Verständnis der jüngsten Forschungsresultate der molekularen Genetik - mit Sicherheit umfassender und detaillierter als ich - und sie ist in die Literatur zur Geschichte der Genetik sehr gut eingelesen. Zur gleichen Zeit aber ist sie enthusiastisch über das neue Licht, das nun auf die Natur des Lebens geworfen wurde und steht kritisch zu den übersimplifizierenden Vorstellungen, die ihrer Ansicht nach gemacht wurden".

Vor diesem Hintergrund haben sie aber Gender-Aspekte biologischer Themen weiter fasziniert, wie sie 1990 in einem Interview ausführte: "Meine Bemühungen zielten darauf ab, die Aufmerksamkeit auf den Prozess zu lenken, durch den binäre Gegensätze wie ,männlich’ und ,weiblich’ sozial konstruiert werden und wie das die soziale Konstruktion der Wissenschaften beeinflusst."

Dabei geht es EFK um mehr als das Zusammentragen weiterer Bausteine zur Dokumentation der Benachteiligung von Frauen auch in der Wissenschaft - zur Erweiterung der Basis weiterer Übungen zur abermaligen Beweinung der Gräuel der männlichen Dominanz. EFK vertritt die These: "Nur wenn man die Erkenntnis vom sozialen Charakter sowohl der Wissenschaft als auch der Gender-Rollen ernst nimmt, können wir den aufklärerischen und emanzipatorischen Wert, des Hinausgehens über solche gegensätzlichen Begriffe - für Männer, Frauen und die Wissenschaft - realisieren."

Falsch gestellte Fragen

Immer wenn die Diskussion um eine charakteristische Eigenschaft eines Lebewesens geht, etwa die Frage, ob die Bösartigkeit eines Hundes durch Gene verursacht ist oder durch falsche Erziehung, findet man die weitverbreitete Ansicht, die richtige Antwort auf solche Fragen sei bereits hinreichend geklärt. Wir wissen doch jetzt, dass die richtige Antwort weder die Natur (= die Gene) noch die Umwelt ist, sondern beides. Trotzdem will die Frage nicht verschwinden. EFK untersucht in ihrem jüngst erschienenen Buch, warum das so ist.

Der Erfolg ist ihr dabei treu geblieben. Wiederum hat sie die höchste Form der Anerkennung gefunden, die ein für das breitere Publikum schreibender Autor finden kann: Zwei der weltersten Autoritäten auf diesem Gebiet haben dem schmalen, nur 107 Seiten umfassenden Buch Besprechungen gewidmet. Der Philosoph Philip Kitcher, Autorität auch auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie der Biologie, schrieb: "Evelyn Fox Kellers Diagnose der in unserem Denken vorherrschenden Konfusion ist so klar und so informiert, dass man in Versuchung ist, von Wissenschaftern, Journalisten, Philosophen und Politikern zu verlangen, dass sie, bevor sie über ,Nature oder ,Nurture reden, zeigen sollten, dass sie EFKs Argumente verstanden haben."

Richard Lewontin, einer der führenden Evolutionstheoretiker der Welt, geht in seiner Besprechung detailliert auf die Probleme ein, welche selbst informierte Biologen mit diesem Typ von Argumenten haben. Nur in der schlichtesten Form der Evolutionstheorie ist es sehr einfach festzulegen, was an der Umwelt man zur effektiven ökologischen Nische eines Organismus zählt. Nach dieser Sicht passen sich Organismen rein passiv an von ihnen vorgefundene Umweltbedingungen an. In der Realität schaffen sich Menschen und andere Organismen durch ihre Aktivität ihre effektive Umwelt, so wie die Bienen einen Bienenstock. In ihrer extremen Form sind Fragen wie "Hat das genetische Ursachen oder geht es auf Umweltfaktoren zurück", ja offensichtlich falsch gestellt. Gene sind chemische Moleküle - ohne Wechselwirkungen mit anderen Molekülen ihrer Umwelt vermögen sie gar nichts, was die Biologen interessieren könnte. Jedes Merkmal eines Lebewesens hat eine genetische Grundlage. Gen- freie Lebewesen existieren nur in uninformierten Flunkereien an österreichischen Stammtischen.

Die meisten Fragen gelten in diesem Zusammenhang jedoch der Klärung des quantitativen Anteils, den genetische Grundlagen zur Ausprägung eines Merkmals haben. Die jüngsten Ergebnisse der Genetik über das Ablesen der genetischen Information lassen solche Fragen jedoch sehr oft einfach lächerlich erscheinen. Um das mit einem analogen Beispiel zu illustrieren: Wenn zwei verschiedene Schlagzeuger an der Arbeit sind, dann ließe sich annehmen, dass man herausfinden könnte, ob die Unterschiede im Gehörten durch unterschiedliche Trommeln verursacht werden oder durch die Schlagzeuger. Eine Antwort darauf ist nur möglich, wenn sich Wechselwirkungen zwischen den Einflussfaktoren ausschalten lassen , - etwa, dass die Trommler auf ausgetauschten Trommeln anders spielen.

In komplexen Umweltfragen ist es oft sehr schwierig, alle derartigen Wechselwirkungen aufzuspüren und im Modell zu berücksichtigen. Indizien für das relative Gewicht bei der Ausprägung eines Merkmals sind für Einzelindividuen aus methodischen Gründen außer Reichweite, man kann jedoch das Gewicht der Einflussgrößen bei der Bildung von Unterschieden zwischen verschiedenen Individuen einer Population ermitteln. Richard Lewontin illustriert die Situation an einem drastischen Beispiel: "Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man behauptet, 76 Prozent der Unterschiede in der Größe erwachsener Amerikanerinnen gingen auf genetische Variationen zurück. Wenn man alle signifikanten Einflussgrößen bei der Analyse erfasst hat, gingen die restlichen 24 Prozent auf Ernährungsunterschiede zurück. Der Unsinn beginnt erst, wenn man behauptet, dass 76 Prozent der Körpergröße von EFK von ihren Genen verursacht worden wären. Die Auswirkungen verschiedener Faktoren können nicht derart differenziert werden. Denn das würde die Behauptung implizieren, dass EFK immer noch drei Viertel ihrer Körpergröße hätte, wenn sie sich entschlossen hätte, nie etwas zu essen."

Literatur:

Evelyn Fox Keller. The Mirage of a space between Nature and Nurture. Duke University Press, 2010.
Richard Lewontin: It’s even less in our genes. New York Review of Books 26, Mai 2011.

Peter Markl unterrichtete an der Universität Wien Analytische Chemie und Methodik der Naturwissenschaften. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung und Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.