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Fetisch Neutralität

Von Stefan Brocza

Gastkommentare
Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und internationale Beziehungen. Er war an der Durchführung der beiden EU-Präsidentschaften 1998 und 2006 aktiv beteiligt.

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Die jüngst von Fred Korkisch in einem Gastkommentar referierte Ansicht, Österreichs immerwährende Neutralität wäre ein Baugesetz der österreichischen Verfassung und jede Änderung daher zwangsmäßig einer Volksabstimmung nach Artikel 44 (3) Bundes-Verfassungsgesetz zu unterziehen, ist falsch. Das Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs wurde ganz normal mit Zweidrittelmehrheit beschlossen - ohne Volksabstimmung. Mit dem Beschluss von 1955 wurde daher kein weiteres "Grundprinzip" der österreichischen Verfassung beigefügt. Es gehört also in die Märchen- und Sagenwelt der österreichischen Innenpolitik, dass die immerwährende Neutralität nur durch eine verpflichtende Volksabstimmung abgeändert oder gar abgelegt werden könne.

Richtig ist, dass dem Begriff Neutralität in Österreich der Nimbus des Unantastbaren anhaftet. Dieser Eindruck wird durch entsprechende Bedeutungsüberhöhungen verstärkt, die regelmäßig - meist an hohen weltlichen Feiertagen - in weihevoller Stimmlage verkündet werden. Gleichzeitig steht es aber auch außer Frage, dass Österreichs Neutralität von Anbeginn an sehr eigenständig und manchmal auch eigenwillig interpretiert wurde und wird.

Obwohl man in den offiziellen politischen Sonntagsreden noch immer eher einem Neutralitätsverständnis des 19. Jahrhunderts anhängt, hat das Land gleichzeitig keine Probleme, an UN-Einsätzen, zivil-militärischen Missionen der EU, der Partnerschaft für den Frieden im Rahmen der Nato oder auch der Internationalen Allianz gegen den IS mitzuwirken.

Unabhängigkeit nicht in Gefahr

Mit Österreichs Neutralität vereinbar war auch die Aktivierung der EU-Beistandsklausel gemäß Artikel 42 (7) des EU-Vertrags im Herbst 2015, und niemand Offizieller sieht auch nur das kleinste Problem, dass Österreich an der Zentraleuropäischen Verteidigungskooperation teilnimmt und ganz begierig ist, sich mit den dortigen Nato-Staaten zu koordinieren und zu kooperieren. Wo immer gerade Konflikte herrschen, agiert der Verteidigungsminister nach dem Shakespeare-Motto "Lasst mich den Löwen auch spielen" und kündigt immer und überall Österreichs Teilnahme an.

Das alles ist österreichische Realität und offenbar auch mit der Neutralität vereinbar. Und zwar seit Jahr und Tag ohne verpflichtende Volksabstimmung. In diesem Umfeld jetzt Kassandra-artig Neutralitätsbedenken hinsichtlich des jüngsten Weißbuchs von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zur Zukunft Europas herbei zu orakeln, ist übertrieben. Das Weißbuch enthält sehr generell gehaltene Überlegungen und fünf mögliche Entwicklungsszenarien. Nicht mehr und nicht weniger. Daraus gleich eine ernsthafte Bedrohung der österreichischen Neutralität abzuleiten, ist ein reines Glasperlenspiel.

Das Argument, eine unmittelbar bevorstehende Abtretung von Kernbereichen jeder staatlichen Autonomie beziehungsweise völkerrechtlichen Souveränität an die EU würde Österreichs Unabhängigkeit demnächst beenden, gehört in die Mottenkiste der politischen Ammenmärchen. Dieses Szenario ist weit und breit nicht zu sehen. Es ist ein Schuss weit übers Ziel hinaus. Was hingegen die Frage "Wie hältst du es eigentlich mit der Neutralität wirklich?" betrifft, wäre es tatsächlich längst an der Zeit, Farbe zu bekennen.