Eigentlich wäre alles ziemlich einfach: man esse genügend Obst und Gemüse, verzichte weitgehend auf Salz, Zucker und Fett und bewege sich täglich, wenigstens eine Stunde lang. Das zumindest empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem Expertenbericht zum Thema Ernährung im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen. Wenn die Menschen in den Industrienationen ihre Ernährung nicht umstellen, könnten im Jahr 2020 chronische Krankheiten für drei Viertel aller Todesfälle verantwortlich sein, warnt die WHO.
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Die Forscher schlagen Alarm. Fettleibigkeit und Diabetes treten in immer früheren Lebensphasen auf. Seit den 60er Jahren hat sich die tägliche Kalorienzufuhr in den Industrieländern um 600 Kilokalorien pro Tag und Person erhöht. Der tägliche Fettkonsum der Europäer ist im gleichen Zeitraum von 117,2 Gramm auf 149 Gramm gestiegen. Weltweit eine Milliarde Erwachsene haben Übergewicht, ein Drittel davon gilt als fettleibig.
In Zusammenhang damit ist die Häufigkeit chronischer Krankheiten in den vergangenen Jahren rapide angestiegen. 2001 verursachten sie etwa 59 Prozent von 56,5 Millionen Todesfällen weltweit. In den Industriestaaten werde laut WHO allein die Zahl der Diabetiker von 84 Millionen im Jahr 1995 auf 228 Millionen im Jahr 2020 zunehmen.
Übergewicht ist ungesund, daran gibt es nichts zu rütteln. Dicke Menschen erkranken etwa viel häufiger an Krebs als normalgewichtige. Das hat eine amerikanische Studie mit mehr als 900.000 Teilnehmern ergeben, und eine schwedische Studie kam zu dem Ergebnis, dass Übergewicht auch die Gefahr an Alzheimer zu erkranken erhöht.
Die Zahl übergewichtiger Menschen hat in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren dramatisch zugenommen. Experten und die WHO sprechen inzwischen einhellig von einer Epidemie. Die Westeuropäer könnten im Durchschnitt fünf Jahre länger gesund bleiben, wenn sie weniger rauchen, sich besser ernähren und mehr bewegen würden, sagt die WHO. In Nordamerika und Westeuropa stirbt nach Angaben der obersten Gesundheitsbehörde pro Jahr etwa eine halbe Million Menschen an den Folgen von Fettleibigkeit.
Von Fettleibigkeit, Adipositas, spricht man, wenn die Maßzahl für die Leibesfülle, der Body Mass Index (BMI) - Körpergewicht in Kilogramm durch Körpergröße in Metern zum Quadrat - über 30 liegt. Als übergewichtig gelten Frauen mit einem BMI über 24 und Männer mit einem BMI über 25. Es gibt auch eine einfache Version, herauszufinden, ob man zu viel Speck auf den Rippen mit sich herumträgt: die Bauchumfangmessung. Mehr als 90 cm rundherum sind eindeutig zu viel.
Die Statistiken sind erschreckend: In Frankreich sind etwa 15 Prozent der Bevölkerung fettleibig, in Deutschland 19 Prozent, in Italien zehn Prozent, in Griechenland - das Land der viel gerühmten Mittelmeerdiät - gar 29 Prozent. Österreich befindet sich mit etwa elf Prozent Fettleibigen im soliden Mittelfeld. Unter den Spitzenreitern befinden sich die USA mit 31 Prozent krankhaft Dicken.
Wir sitzen zu viel herum
Die Ursachen dafür sehen Experten einhellig in unserem ungesunden Lebensstil: stundenlanges Sitzen am Computer, Freizeit vor dem Fernseher, Autofahrten statt Spaziergängen, dazu zu salziges und zu fettiges Fast-Food - das klassische Dasein eines Couch-Potatoes eben.
Sportwissenschaftler orten einen alarmierenden Bewegungsmangel in der industrialisierten Welt. Es gehe schon gar nicht mehr darum, die Menschen zu sportlichen Aktivitäten zu überreden, sondern darum, sich überhaupt zu bewegen, meint Neville Owen von der Universität Queensland.
"Wir haben es in geradezu genialer Weise geschafft, Umweltbedingungen zu schaffen, die uns fett machen," formuliert Philip James, Vorsitzender der International Obesity Task Force (IOTF), die sich dem Kampf gegen die Fettleibigkeit verschrieben hat, überspitzt.
Fettleibigkeit ist jedoch nicht mehr nur ein Problem der Industriestaaten. Selbst in Ländern, deren Bevölkerung bisher Mühe hatte, genügend Nahrung zu sich zu nehmen, werden die Menschen immer dicker. In Südafrika sind 19 Prozent der Menschen fettleibig, in Namibia sieben Prozent, in Peru 32 Prozent. Sogar in Indien, wo die Hälfte der unterernährten Menschen dieser Welt lebt, erfüllen sieben Prozent der Bevölkerung die Kriterien der krankhaften Fettleibigkeit.
Die Fett-Epidemie, wie manche Experten diese Entwicklung bereits nennen, wandert zunehmend von reicheren Teilen der Welt in ärmere Regionen. Verantwortlich dafür sind laut Ernährungswissenschaftlern nicht nur kulturelle Wertvorstellungen - eine gewisse Leibesfülle symbolisiert nach wie vor in vielen Ländern Wohlstand und Gesundheit und bei Frauen Fruchtbarkeit - sondern auch soziale Aspekte.
Zeichen des Wohlstands
Ein Auto, ein Fernseher, Essen aus dem Supermarkt oder Burgers von einer Fast-Food-Kette und der Besitz einer Couch inklusive der Zeit, darauf zu lümmeln, sind in Entwicklungsländern Statussymbole, die Wohlstand vermitteln und das Gefühl, einer internationalen Gemeinschaft von Bessergestellten anzugehören.
Gerade in diesen Ländern ist die Gesundheitsvorsorge - noch - kein Thema. Ernährungsbedingte Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Bluthochdruck und Krebs sind laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins "Newsweek" inzwischen für mehr als die Hälfte aller Todesfälle in den arabischen Ländern verantwortlich. In Barbados fließen mehr als 60 Prozent der Spitals- und Medikamentenkosten in die Behandlung von ernährungsbedingten Krankheiten.
In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion - und nicht nur dort - sind Obst und Gemüse oft teurer als Wurst, fettes Fleisch oder Zucker. In vielen Ländern ist Coca Cola billiger als Mineralwasser. Für jemanden, der nur knapp über dem Existenzminimum verdient, ist der Preis ein überzeugendes Argument gegen Nahrungsmittel, von denen man landläufig weiß, dass sie gesund sind. Fettleibigkeit wird so zunehmend zu einem Problem der unteren Einkommensschichten, glauben Experten.
Die durch Fettleibigkeit verursachten volkswirtschaftlichen Kosten sind jedenfalls enorm. In Deutschland etwa wird der Betrag auf über zehn Mrd. Euro jährlich geschätzt. Die Experten der WHO und anderer internationaler Gesundheitsgremien sehen Handlungsbedarf. Ähnlich wie beim Kampf gegen das Rauchen müssten die individuellen Bemühungen der Betroffenen durch eine Reihe von Maßnahmen politischer, wirtschaftlicher und öffentlicher Institutionen flankiert werden. Die Vorschläge reichen von verständlicher und auf den täglichen Kalorienbedarf bezogener Etikettierung aller Lebensmittel über die Erhöhung des Gemüse- und Salatanteils bei Kantinen- und Restaurant-Essen bis hin zum Ausbau von Radwegen.
Die WHO hat bereits Gespräche mit der Nahrungsmittelindustrie aufgenommen, dem Vernehmen nach mit guten Ergebnissen.
Industrie im Visier
In den USA rüsten sich unterdessen auch die Anwälte für den Kampf gegen die Hersteller von ungesunden Lebensmitteln. Nach dem Muster der Tabakprozesse sollen nun auch Fast-Food-Restaurants und Nahrungsmittelkonzerne für die Gewichtsprobleme der Verbraucher zur Kasse gebeten werden. In den USA sind 127 Millionen Erwachsene übergewichtig, 60 Millionen gelten als fettleibig - ein Milliardengeschäft.
Die Industrie geht dementsprechend in die Offensive: der größte US-Lebensmittelkonzern Kraft, aus dessen Haus u.a. Frischkäse und Schokolade-Produkte kommen, will gesündere Zutaten verwenden, kleinere Portionen abpacken und in Schulen nicht mehr für süße und fettige Snacks werben. Kraft gehört zu Altria, dem umbenannten Konzern der Tabakgruppe Philip Morris. Das Unternehmen hat bereits Erfahrung darin, wie teuer solche Klagen werden können.
Nach einer Studie des "Journals of Health Promotion" verlieren US-Firmen durch die exzessive Leibesfülle von Angestellten im Jahr 12,7 Mrd. Dollar - vor allem durch viele Krankheitstage. Viele Firmen werden deshalb von sich aus aktiv. In Automaten wird statt Schokoriegeln Obst und Joghurt angeboten, in der Mittagspause gibt es Fitnesskurse und Weight Watcher-Klassen. Auch manche Schulbehörden haben bereits reagiert. In kalifornischen und New Yorker Schulen wurden Süßigkeiten und Soft-Drinks aus den Automaten verbannt.
Steuer auf Pommes frites
Australische Ärzte wollen dem Gesundheitsminister gar eine Fett-Steuer vorschlagen. Die Besteuerung von Pommes frites, Hamburgern, Süßgetränken und ähnlichen Kalorienbomben soll den Trend zum Übergewicht bremsen. Nach einer Studie der Australien Medical Association (AMA) sind fast 60 Prozent der Australier übergewichtig, 19 Prozent davon fettleibig. Die Diabetes-Rate ist in Australien eine der höchsten der Welt.
"Es geht nicht um das Geld," meint AMA-Vizepräsident Mukesh Haikerwal, "es ist Teil einer Strategie, um den Menschen die Bestandteile von Lebensmitteln bewusster zu machen, die sie kaufen."