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Angesichts der drohenden Deflation schnürt EZB-Chef Draghi ein riesiges Lockerungspaket und flutet die Märkte mit Milliarden.
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Frankfurt. Selten waren die Erwartungen an die Europäische Zentralbank (EZB) so hoch gewesen. Und selten zuvor hatten die Währungshüter in Frankfurt so deutlich und unumwunden klargemacht, dass sie bereit sind, auch außergewöhnliche Maßnahmen zu treffen, um die Gefahr einer Deflation im Keim zu ersticken und die noch immer zögerliche konjunkturelle Erholung auf festere Beine zu stellen. Klartext sprach dabei vor allem EZB-Chef Mario Draghi selbst. "Der EZB-Rat fühlt sich wohl damit, beim nächsten Mal zu handeln", hatte der Italiener Anfang Mai bei einer Pressekonferenz erklärt. Dass es auch Notenbanker wie den früheren Fed-Chef Alan Greenspan gab, der sich stets in kryptischen Andeutungen erging und mit dessen Exegese eine ganze Heerschar von Analysten und Journalisten beschäftigt war, schien angesichts von Draghis Bestimmtheit da schon wie eine Anekdote aus einer längst vergangenen Zeit.
Die hohen Erwartungen hat Draghi am Donnerstag jedenfalls nicht enttäuscht, mit den bei der Zinssitzung getroffenen Entscheidungen verlässt die EZB endgültig die ausgetretenen Pfade der Geldpolitik. Und sie feuert dabei aus allen Rohren.
Angesichts der anhaltenden niedrigen Inflation in der Eurozone, die im Mai wieder auf 0,5 Prozent absackte, beschloss das EZB-Direktorium eine neuerliche Absenkung des Leitzinssatzes, der mit 0,25 Prozent ohnehin schon einen historischen Tiefststand erreicht hatte. Im Hinblick auf die bedrohlich nahe Null-Linie, die der EZB jeden weiteren Spielraum nehmen würde, verzichteten die Währungshüter in Frankfurt allerdings auf die bisher üblichen Viertelprozent-Schritte. Stattdessen wurde der Leitzins um 10 Basispunkte auf 0,15 Prozent gesenkt. Dennoch ist Geld damit so billig wie nie zuvor seit der Einführung des Euro.
Wie von den meisten Experten erwartet, setzt die EZB auch einen weiteren - für eine große Zentralbank historischen - Schritt. Erstmals wird es Strafzinsen für Banken geben, die ihr Geld lieber bei der EZB parken, als dieses in Form von Krediten an Unternehmen weiterzugeben. Denn vor allem in den kriselnden Euro-Peripheriestaaten kommen Unternehmen derzeit nur sehr schwer an Darlehen, die Möglichkeit, neue Investitionen zu tätigen, sinkt.
Mit 0,10 Prozent wurde der Strafzins jedoch relativ niedrig gehalten, wohl auch um allzu große Negativeffekte für Sparer zu verhindern. Ob dieser Plan vollends aufgeht, ist allerdings unklar. In Dänemark, wo die Notenbank bereits mit einem Negativzins für Einlagen experimentiert hatte, reichten die Banken ihre höheren Kosten einfach an Sparer und Kreditnehmer weiter.
Billig, aber zweckgebunden
Um die Kreditklemme zu überwinden, vertraut die EZB allerdings nicht allein auf Strafzinsen für die Geldhäuser. Draghi zufolge sollen im September und Dezember auch zwei rund vier Jahre laufende Kreditlinien für die Banken auflegt werden. Die unter dem Kürzel TLTRO firmierenden Geldspritzen, die ein Volumen von 400 Milliarden Euro haben, werden diesmal allerdings an die Bedingung geknüpft, dass die Banken das neue billige Geld auch an die Unternehmen weiterreichen. Bereits am Höhepunkt der Krise hat die EZB Billionensummen in das marode Finanzsystem gepumpt, um den stockenden Kreditfluss in Teilen der Währungsunion zu beleben. Doch die Banken nutzten das billige Geld, um damit höher verzinste Staatsanleihen aufzukaufen. Schon im Jänner hatte Draghi daher erklärt: "Wenn wir wieder etwas Ähnliches machen, wollen wir sicherstellen, dass das Geld in die Wirtschaft fließt."
Weitere Milliarden sollen mit Hilfe der Aussetzung des sogenannten Sterilisierungsprogramms in das Finanzsystem gepumpt werden. Zwischen 2010 und 2012 hatte die EZB Staatsanleihen von Eurokrisenstaaten wie Griechenland, Portugal und Irland im Wert von 200 Milliarden aufgekauft, um das Zinsniveau zu drücken und die Haushaltslage der betroffenen Länder zu verbessern. Um zu verhindern, dass diese enorme Geldmenge zu einem Anstieg der Preise führt, wurde über eine komplizierte Konstruktion wieder Liquidität aus den Märkten abgesaugt. Doch jetzt, wo die Gefahr nicht Inflation, sondern Deflation heißt, gibt es dafür keinen Grund mehr.
Kritik der Ökonomen
Draghi betonte zudem, er sei bei Bedarf bereit, weitere Maßnahmen zu ergreifen: "Sind wir fertig? Die Antwort ist: Nein. Wir sind hier noch nicht fertig. Im Notfall sind wir - im Rahmen unseres Mandats - hier nicht fertig." Was noch kommen könnte, hat der EZB-Chef jedenfalls schon angekündigt. Schon bald will sein Haus den Banken auch sogenannte Asset Backed Securities abkaufen. Diese Kreditverbriefungen waren zuletzt schwer in Verruf geraten, weil sie als Mitauslöser der schweren US-Immobilienkrise gelten, doch aus Sicht der EZB sind auch sie ein Mittel, um die Kreditvergabe anzukurbeln.
Dass Draghi und seine Kollegen an diesem Donnerstag nicht nur ein teils überraschendes, sondern auch ein außergewöhnliches Maßnahmenpaket geschnürt haben, war unter Analysten und Volkswirtschaftsexperten unbestritten. Die EZB habe ihre Entschlossenheit zu handeln eindeutig unter Beweis gestellt, lautet der Tenor.
Deutlich umstrittener war aber, ob die Währungshüter damit auch ihre angestrebten Ziele erreichen. So glaubt etwa Commerzbank-Chefsvolkswirt Jörg Krämer nicht an einen Lenkungseffekt durch die Strafzinsen. "Die Banken leiden nicht unter vermeintlich zu hohen Notenbankzinsen, sondern unter dem hohen Bestand fauler Kredite, an dem Negativzinsen nichts ändern", sagte Krämer. Die wahren Nutznießer seien die Finanzminister der verschuldeten Krisenländer. Ähnlich äußerte sich Hans-Werner Sinn, der Chef des renommierten IFO-Instituts: "Das ist der verzweifelte Versuch, mit noch billigerem Geld und Strafzinsen auf Einlagen die Kapitalströme nach Südeuropa umzuleiten und so dort die Wirtschaft anzukurbeln." Das könne aber nicht funktionieren, weil dort zuvor die Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden müsste.