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Feuer & Flamme für fossilen Futurismus

Von Günter Spreitzhofer

Reflexionen
Ultramoderne Skyline: Wenige Städte der Welt haben ihr Gesicht innerhalb kürzester Zeit dermaßen verändert wie Baku, die Ölstadt im südöstlichen Kaukasus.
© Günter Spreitzhofer

Die üppigen Öl- und Gasquellen des Landes befeuern das Glanzimage von Baku als Kaukasus-Metropole.


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Dunkelrote Ladas und blassblaue Wolgas fahren immer noch genug, neben blitzblanken Porsche-SUVs und staubigen Kamaz-Armeelastern, auf den mehrspurigen Autobahnen vom Flughafen Heydar Aliyev hinein in die Stadt. Vorbei am neuen Olympiastadion bei Koroglu, das aussieht wie die Allianz-Arena in München, vorbei am Heydar Aliyev Center, einem mutigen architektonischen Traum in Weiß: ein Ausstellungsgelände auf hunderttausend Quadratmetern, 2012 eröffnet zu Ehren des 2003 verstorbenen Politbüromitglieds und autokratischen Langzeitpräsidenten.

Protzprojekt Formel 1

Seither ist sein Sohn Ilham Aliyev an der Macht, der Personenkult genauso gerne mag, seiner Familie so manches imposante Denkmal hat setzen lassen und Aserbaidschans Hauptstadt Baku (Baki in der Landessprache Azeri) zur Weltstadt ausbauen will. Und da gehören richtige Autorennen dazu, am besten als City Circuit, mit gewaltigen Tribünen allüberall, wo ein Stehplatz am Renntag ab 130 Euro verfügbar ist: Nicht ganz billig jedenfalls, etwa der Gegenwert von 120 Portionen Döner, 250 Flaschen Coke oder 650 Me-tro-Fahrten. Seit 2016 legt der sechs Kilometer lange Formel-1-Stadtkurs die Innenstadt alljährlich für Wochen lahm. (Das heurige Rennen fand Ende April statt - und wurde vom Mexikaner Sergio Perez gewonnen.) Urbane Sicherheit wird so großgeschrieben wie in den Ministerien im Dom Sowjet dahinter, das zu den 100 imposantesten Großbauten der Sowjet-Ära zählt. Doch diese ist vorbei, zumindest am Papier.

Erinnerung an die erste Ölbohrung und an Langzeitpräsidenten Heydar Aliyev.
© Günter Spreitzhofer

Das alles kostet. Aber Geld hat im kaukasischen Verkehrs- und Wirtschaftsknoten an der Seidenstraße noch nie eine Rolle gespielt, spätestens seit im 8. Jahrhundert Öl entdeckt wurde, das zunächst für Beleuchtung verwendet wurde. Und davon, nebenbei erwähnt, braucht es im modernen Baku viel, so fantastisch bunt wie die Illumination der neuen Skyline abends bisweilen ist. Ab 1844 fand in Baku die erste mechanische Ölbohrung der Welt statt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Ölfelder rundum die größten der Welt und sorgten - unter Leitung von Robert Nobel, Ölmagnat und älterer Bruder von Alfred Nobel - für die Hälfte der Welterdölproduktion. Die Nobel Brothers Petroleum Producing Company galt lange Zeit als bedeutendster Rohölkonzern der Welt.

Nicht wenige Neureiche ließen sich von westeuropäischen Architekten neugotische Paläste und Jugendstilbauten im Süden der Altstadt erbauen, die 2000 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurde. Durch die massenhafte Zuwanderung wuchs Bakus Bevölkerung von 1856 bis 1910 schneller als jene von London, Paris oder New York.

Socar - die fünf Buchstaben sind die Abkürzung für State Oil Company of Azerbaijan Republic - geht es jedenfalls prächtig. Das aserbaidschanische Petrochemie-Staatsunternehmen wurde 1992 per Präsidentendekret gegründet, hat seinen Hauptsitz in Baku, besitzt 57 eigene Öl- und Gasfelder (18 davon offshore) und dehnt seinen Einflussbereich kontinuierlich aus: 2010 etwa, als in der Schweiz sämtliche 170 Esso-Tankstellen aufgekauft wurden. Mit mehr als 50.000 Mitarbeitern weltweit und 65,4 Milliarden USD Umsatz im Jahr ist Socar eines der größten Energieunternehmen der Welt, dessen Präsident Rovnag Abdullajew nebenbei auch Präsident des aserbaidschanischen Fußballverbandes ist - mit wohlwollender Unterstützung des Aliyev-Clans, der das Land seit Zusammenbruch der UdSSR 1991 unter seinen Mitgliedern und Sympathisanten aufgeteilt hat,

Herrschaft der Stämme

Die Tribokratie, die Herrschaft der Stämme, prägt das 10,2-Millionen-Einwohner-Land im Südkaukasus, das etwa so groß ist wie Österreich. Aliyevs Frau ist Vizepräsidentin des Landes, auch die Töchter und sämtliche Regierungsmitglieder leugnen gar nicht, wirtschaftliche Interessen auf globaler Ebene zu haben. Der Hoffnungspartei, größte Oppositionspartei des Landes, bleibt wenig mehr als die sprichwörtliche Hoffnung auf eine liberale und gesellschaftspolitisch entflochtene Zukunft. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International steht Aserbaidschan auf Platz 128 von 180 (2021), in der Bewertung der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 154 von 180 (2022): BBC und Voice of America sind unerwünscht und landesweit gesperrt.

Die Flame Towers züngeln über Bakus Skyline.
© Günter Spreitzhofer

Stets an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien gelegen, ist die Zwei-Millionen-Metropole Baku im Süden der Abseron-Halbinsel ein faszinierender Schmelztiegel von Kulturen und Baustilen geworden: Türkisch-iranisch-islamische Elemente treffen auf russisch-osteuropäische Einflüsse. Und damit sind gar nicht die archaischen Sowjet-Pumpen gemeint, die rund um das glitzernde Baku immer noch den ratternden Takt angeben: Morbider "dark tourism" kann gleich außerhalb der Stadtgrenzen beginnen, leicht gemacht durch supermoderne klimatisierte Schnellbahngarnituren, die seit 2020 durch apokalyptische Landschaften mit Kuhherden in Ölseen und Kinderspielplätzen neben zerborstenen Pipelines führen. Die Halbinsel gilt seit Jahrzehnten - auch als Sowjeterbe - als eine der weltweit meistgefährdeten und übelst verschmutzten Regionen, was (auch radioaktives) Müllaufkommen, Wasser- und Luftqualität betrifft.

Höchster Fahnenmast

In Downtown Baku geht es seit dem zweiten Ölboom 2006 architektonisch rund, oder besser hoch. Wenige Städte der Welt haben ihr Gesicht in kürzester Zeit dermaßen verändert wie die Ölstadt im südöstlichen Kaukasus, die ein bisschen wie Paris, aber auch ein wenig wie Dubai sein will. Fashion Malls wie die Port Baku Mall sprießen zuhauf, neben der Baustelle des gewaltigen Glasbogens des Crescent Hotels. Der Baku Boulevard, eine 1909 eingerichtete Promenade am Meer, wurde 2012 nach Süden auf fast vier Kilometer bis zum "Platz der Nationalflagge" verlängert, wo 2010 ein gigantisches Tuch (70 x 35 m) auf dem höchsten Fahnenmast der Welt (162 m) befestigt wurde.

Dahinter findet sich die Baku Crystal Hall, die extra für die Veranstaltung des Eurovision Song Contest 2012 errichtet wurde und Platz für 35.000 Zuseher bietet. Das Baku Eye, ein 2014 eröffnetes sechzig Meter hohes Riesenrad, dreht am Bulvar seine Runden, wo es sich prächtig flanieren, E-rollern und Eis essen lässt, spätestens wenn das frühere Lenin-Museum - das aussieht wie ein zusammengerollter Teppich - seine Pforten schließt. Damit Papa Aliyev nicht vergessen wird, wurde auch der frühere "Palast der Republik" 2008 renoviert und umbenannt - nicht völlig unerwartet in Heydar-Aliyev-Palast.

Wie ein eingerollter Teppich: Das Lenin-Museum in Baku.
© Günter Spreitzhofer

Die drei Flame Towers mit LED-Verglasung, jeweils fast 180 Meter hoch oben am Hügel neben dem Funkturm, die seit 2013 Aserbaidschans Motto als "Land des Feuers" untermalen sollen und auch nachts züngelnde Flammen darstellen, haben es längst zu einer Reportage im Discovery Channel geschafft. Daneben liegt die Allee der Märtyrer, die auch per Schrägaufzug erreichbar ist: Unten im Gassengewirr der historischen Altstadt mit versteckten Karawansereien und Hamams werden weiterhin sowjetische Memorabilia gehandelt, etwa vor dem Palast der Khane von Schirwan und dem Jungfrauenturm - welches Mitglied der Familie Aliyev diesen Geschäftszweig kontrolliert, bleibt unklar.

Nachmittags werden zahlreiche Brunnen aktiviert, um ein wenig Kühlung in den kaspischen Hitzedampf zu bringen - am Brunnenplatz etwa, vormals Karl-Marx-Park, dem Beginn der Flaniermeile Nizami Küc durch die Innenstadt bis zum Metroknoten "28. Mai". Erst abends geht es dort richtig los: In einem Ranking des Reiseführerverlages "Lonely Planet" kam Baku in die Top 10 der weltweit besten Ziele für städtisches Nachtleben. Auch die US-amerikanische Nachrichtenagentur "USA Today" räumte Baku diesbezüglich kürzlich einen Spitzenplatz ein: Die Charme-Offensive der Azeri trägt internationale Früchte.

Stadt der Winde

Der Name Baku wird von Bad Kube (persisch, Stadt der Winde) abgeleitet. Davon ist genug zu spüren, zum Glück an stickigen Sommertagen. Dann füllt sich Su Idmani Saray, der Schwimmpalast von olympischen Dimensionen, auf dessen Parkgelände fast von SCS-Dimensionen der älteste Bohrturm der Welt ausgestellt ist. Bloß ist Baden im azurblauen Kaspischen Meer so eine Sache, über die weniger gern gesprochen wird als über die neuen Wahrzeichen der Stadt - lassen Sie’s besser bleiben, denn das Wasser rund um die gesamte Halbinsel ist so ölig wie die Achsmanschetten der Lada-Taxis, die sich über verkrustete Pisten den Weg zu den Schlammvulkanen außerhalb der Stadt bahnen. "Maschina karascho", gutes Auto, sagt Elvin, der mit Vergnügen türkische Tourgruppen in weißen SUVs in ausgetrockneten Bachbetten überholt und in Staubwolken taucht.

Im Land der Schlammvulkane.
© Günter Spreitzhofer

Doch die kaukasische Friedensidylle Bakus täuscht. Denn Gospodin (Herr, russisch) Putin lässt nie vergessen, dass Russland seine kaukasischen Randgebiete niemals sich selbst überlassen wird. Moskau will den Kaukasus als Pufferzone gegen Terrorismus, Drogenhandel und illegale Immigration unbedingt in seinem Einfluss behalten. "Für Russland ist ganz Zentralasien seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein wichtiger Puffer gegen Gefahren aus dem Süden", sagt Jeff Markoff vom Center for Strategic and International Studies.

Fernab des Angriffskrieges auf die Ukraine inszeniert sich das Land an der postsowjetischen Peripherie gezielt als Friedensstifter und Vermittler, um die strategische Kontrolle seiner Randgebiete nicht zu gefährden. Das ist nichts Neues. Russland beansprucht hier seit Zarenzeiten die Rolle als Einfluss- und Ordnungsmacht. Die drei südkaukasischen Staaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan gelten im russischen Sprachgebrauch als "nahes Ausland": Bei Konflikten ist man stets schnell zur Stelle und interveniert, ob erbeten oder nicht.

Spannungen etwa entlang der Grenzen zwischen Armenien und Aserbaidschan, die seit Sowjetzeiten nie explizit festgeschrieben wurden, gibt es seit Beginn der Querelen um die Region Arzach (bis 2017: Berg-Karabach = Nagorny-Karabach). Streitpunkte zwischen beiden Ländern sind sowohl der Status des ehemaligen Autonomiegebiets als auch Transportverbindungen von Aserbaidschan über armenisches Territorium in die Türkei, dem aktuellen Lieblingsbruderstaat des ölreichen Landes am Kaspischen Meer. Ein Friedensabkommen im April 2022, das unter Vermittlung der Europäischen Union stattfand, sollte weite Gebiete des vorwiegend armenisch besiedelten Arzach - heute ein international nicht anerkannter De-facto-Staat - offiziell an Aserbaidschan übergeben, das 2020 in einem 44-tägigen Invasionskrieg die regionalen Grenzen neu definiert hat.

Memorabilia aus der Sowjetzeit.
© Günter Spreitzhofer

Putin hatte damals ein trilaterales Waffenstillstandsabkommen initiiert und seine militärische Präsenz ausgeweitet: 2.000 russische Soldaten sind nach wie vor zur Friedenssicherung in der Region, wo im September 2022 erneut Gefechte aufflammten - offenbar ein Testlauf für Aliyev, inwieweit Russland noch seiner traditionellen Rolle als regionale Ordnungsmacht nachzukommen bereit war. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) war dabei nicht mehr als ein unbeteiligter Zaungast.

Gute Geschäfte mit EU

Das autoritär regierte Aserbaidschan sieht sich derzeit in einer komfortablen Position gegenüber Europa: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vereinbarte Mitte 2022 eine neue Energiepartnerschaft mit Aserbaidschan, mit dem Ziel einer Verdoppelung der Gasimporte - ein hoher Imagegewinn für den autokratischen Machthaber Ilham Aliyev, der angesichts der verzweifelten Ressourcensuche der EU weder offene Kritik an seinem totalitären Regierungsstil noch seiner Aggressionspolitik oder gar Sanktionen zu befürchten hat: Menschenrechtsorganisationen monierten auch Anfang 2023 humanitäre Desaster in der Enklave, die Baku als aserbaidschanisches Territorium definiert. Der armenische Rechtsvertreter am Internationalen Strafgerichtshof, Jeghische Kirakosjan, warf Aserbaidschan gezielte "ethnische Säuberung" vor, um die armenisch-sprachige Region armenierfrei zu machen.

Die EU hat gegenüber beiden Ländern nur Lockmittel, keine Druckmittel. Militärisches Engagement im Kaukasus ist ausgeschlossen, Ziel ist regionale Stabilität durch Erhöhung von Wohlstand und Lebensqualität. Andere Mächte in der Region haben deutlich mehr Einfluss: Neben Russland sind das vor allem die Türkei (auf der Seite Aserbaidschans) oder der Iran (auf der Seite Armeniens). Die geopolitischen Koordinaten im Kaukasus haben sich längst verschoben, auf Kosten westlicher und globaler Akteure.

Das Narrativ der "Russischen Welt" (Russkij Mir) dient zur Einflussnahme auf postsowjetische Nachbarstaaten, deren Bindung zu Moskau nie wirklich abgerissen ist: Nicht nur (das vorwiegend muslimische) Aserbaidschan ist jedenfalls empfänglich für antiwestliche Propaganda, nicht zuletzt aufgrund konservativer Einstellungen weiter Bevölkerungskreise zu Gender-Fragen und Themen sexueller Orientierung. Postuliert wird eine postsowjetisch-eurasische Zivilisation, die sich - von Osteuropa bis Zentralasien reichend - von traditionsfeindlichen westlichen Werten absetzen soll.

Brennt dieses Feuer wirklich seit sieben Jahrhunderten?
© Günter Spreitzhofer

Dass Klimasensibilität in Baku & Umgebung auf absehbare Zeit wohl eher kein politisches Desiderat darstellen und kaum gesellschaftspolitische Relevanz haben wird, liegt auf der Hand: 67 Prozent des azerischen BIP beruhen auf Exploration, Förderung und Transport von fossilen Rohstoffen, vieles davon seit Jahrhunderten. Am Feuerberg von Yanar Dag, wo natürliche Erdgasfeuer am Hang eines Hügels nördlich von Baku zur Touristenattraktion ausgebaut wurden, lodern Flammen schon seit Marco Polos Zeiten vor sich hin. Nicht weit weg ist der Feuertempel von Ateshga, einer der wenigen zoroastrischen Kultorte außerhalb Indiens: Die natürliche Flamme dort ist durch die jahrzehntelangen Bohrungen rundum längst erloschen, also wurde einfach eine unterirdische Gasleitung neu gelegt. So einfach kann’s gehen, um türkische Tourgruppen nicht zu enttäuschen.

Das Rennen um die Gunst von Ost und West scheint freilich offen. Neue Gaslieferverträge von Aserbaidschan mit Russland, zugleich neue Abnahmegarantien der EU für aserbaidschanisches Gas, das jedoch - allen Sanktionsbeteuerungen zum Trotz - de facto aus Russland kommen wird, eröffnen eine gesichtswahrende Win-win-Situation für alle Beteiligten. Die fossile Gunst der Stunde liegt bei der Familie Aliyev allein.

Günter Spreitzhofer, geboren 1966, ist Lektor am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien; Arbeitschwerpunkte: (Südost-)Asien; Tourismus, Urbanisierung & soziokulturelle Transformation, Umwelt & Ressourcen.