Zum Hauptinhalt springen

Feuerwehrleute in Sachen Erdbeben

Von Thomas A. Friedrich

Wissen

Wissenschafter tragen in L´Aquila zum Gebäude und Kulturgüterschutz bei. | Wurden in Umbrien Eurocode-Normen für Bauten missachtet? | Ispra/Brüssel. EU-Wissenschafter wollen in dieser Woche herausfinden, ob die geltenden Eurocode-Normen für Gebäude im von Erdbeben heimgesuchten italienischen Katastrophengebiet Umbrien eingehalten wurden. Erste Untersuchungen des italienischen Zivilschutzes haben Zweifel geschürt, wie weit das Studentenwohnheim, in dem neun Jugendliche umkamen und das unbrauchbar gewordene Hospital in L´Aquila den für Erdbebenregionen geltenden Eurocode-Normen entsprochen haben.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Nach den anhaltenden Erdbeben in Umbrien und der Trauer um die Toten über das Osterfest steht nun die Begutachtung der beschädigten Gebäude und Kulturgüter im Mittelpunkt. Erdbebenexperten der EU-Forschungsstelle Ispra am Lago Maggiore reisen diese Woche nach L´Aquila, um bei der Begutachtung der einsturzgefährdeten Häuser über deren Abriss oder Erhaltungsmaßnahmen zu entscheiden.

Einer davon ihnen ist der 43jährige Ingenieur Fabio Taucer, ein internationaler Bebenexperte, der von Kindesbeinen an mit dem Zittern der Erde Erfahrung hat: Im venezuelanischen Caracas geboren, überlebte er durch den Instinkt seiner Mutter als Einjähriger das schwere Erdbeben von 1967, da sie den Säugling einen Tag vor der Katastrophe mit ans Meer nahm. Drei Verwandte kamen im Haus der Familie um.

Ein Experte mit eigenen Bebenerfahrungen

Taucer studierte an der Universität von Venezuela und an der US-University of Berkeley, Kalifornien Erdbebenforschung. In Kalifornien überlebte er als Student das Erdbeben im Oktober 1989 und arbeitete dann für eine Firma in San Francisco, die unter anderem mit einem seismischen Gutachten für die Golden Gate Bridge beauftragt war.

Im Jahr 2000 ging der Sohn aus Italien stammender Eltern nach Mailand und verstärkt seit 2001 das Team am European Labor für Structural Assessment (Elsa) in Ispra. Gemeinsam mit seiner Kollegin Armelle Anthoine hat er drei Jahre am EU-Forschungsprojekt ESECMaSE (2005-2008) zur Erforschung der Widerstandsfähigkeit von Baumaterialien wie modernen Ziegelsteinen, Kalksandstein sowie Gasbetonsteinen mitgewirkt. Ziel dieses internationalen Projekts unter Beteiligung Österreichs ist es, Baumaterialien unter Erdbebeneinwirkung zu untersuchen. Dazu unterhält das Elsa Europas einzige pseudo-dynamische Testanlage für Baukonstruktionen. In einer riesigen Halle werden bis zu vierstöckige Baukörper seismischen Bewegungen ausgesetzt und ihr Verhalten wissenschaftlich analysiert.

Die Ingenieurin Armelle Anthoine, ESECMaSE-Projektleiterin am Elsa, bringt Beton zum Bersten. In der Lombardei am Lago Maggiore steht Europas größte Versuchsanlage zur Simulation von Erdbeben sowie für Tests von Brückenteilen und Baumaterialien unter Extrembedingungen. In der Dimension eines Flugzeughangars dominiert aktuell eine 16 m hohe und 4 m dicke Wand die Szenerie, sie ist auf einer 20 m mal 50 m großen und ebenso mehr als 4 m dicken Betonplatte vertikal aufgerichtet.

Die dynamische Elsa-Reaktionswand hat es in sich: Riesige Kompressoren bringen fünfstöckige Stahlbetonkonstruktionen mit einer Kraft von bis zu 2000 Kilonewton (kN) zum Wackeln und Krachen. Nicht der völlige Einsturz ist das Ziel der bis zu vierstündigen Rütteltests, sondern die Erfassung von Daten zur Bruch- und Reißfestigkeit unterschiedlicher Baumaterialien sowie konstruktiver Verbindungselemente. Alles wird per Video aufgezeichnet und auf Festplatte gespeichert. "Bestehen in Japan und den USA vergleichbare Versuchsanlagen aus horizontal angeordneten Rütteltischen, verfügt die Ispra-Anlage über eine in der Welt einzigartige dynamische vertikale Reaktionswand", erklärt Anthoine. Wie an einer Raketenstartrampe mit Schläuchen, Drähten und Stahlankern verbunden, stehen die Versuchsaufbauten neben der riesigen Rüttelwand.

Vor allem in Erdbebenrisikogebieten Europas - wie Griechenland, Italien, Portugal und Türkei - existieren seit fast 20 Jahren von Architekten und Bausachverständigen festgelegte Eurocode-Normen für Konstruktionsprinzipien mehrgeschossiger Bauten. Die bautechnischen und statischen Anforderungen sind in der EU harmonisiert. Grundlage hierfür bildet ein Beschluss der EU-Kommission aus dem Jahre 1975 aufgrund von Artikel 95 der Römischen Verträge, der ein Aktionsprogramm zur Beseitigung von Handelshemmnissen im Baubereich initiierte. Alle 58 Eurocode-Normen sollen bis 2010 die nationalen Auslegungsvorschriften der EU-Mitgliedsländer ersetzen.

Jedes Haus wird unter die Lupe genommen

Das Know How der Erdbebeningenieure von Ispra wollen sich nun die italienischen Behörden in Umbrien für die aktuelle Lagebeurteilung und beim Aufbau der zerstörten Region zu Nutze machen. Ein sechs- bis siebenköpfiges Team aus Ispra soll vor Ort zum Einsatz kommen. "Bevor die Menschen aus den Zeltlagern wieder in ihre Häuser zurück können, muss die Statik und Sicherheit der Gebäude geprüft werden", sagt Fabio Taucer. Wir werden in den vom Zivilschutz festgelegten Bereichen Haus für Haus, Straße für Straße genauestens unter die Lupe nehmen", erklärt Taucer. Es gibt unübersehbare Farbspraymarkierungen für wieder beziehbare Häuser (grün), für nur nach zusätzlichen Verstärkungsmaßnahmen nutzbare (gelb) und für erheblich einsturzgefährdete (rot), die abgerissen werden müssen.

Erdbeben-Ingenieur Taucer weiß genau, wie gefährlich die Mission in der weiterhin von Nachbeben erschütterten Region für die Helfer ist: "Aber es geht ja darum, meinen Landsleuten zu helfen", sagt der Sohn italienischer Eltern, der als Mitglied des international agierenden Earthquake Engineering Field Investigation Teams (EEFIT) weltweit gerufen wird - überall, wo die Erde bebt.