Ágnes Heller über den Wandel der rechtsextremen Jobbik und ihre Hoffnung auf Neuwahlen in Ungarn.
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In Ungarn dürfte am Sonntag der Rechtspopulist Viktor Orbán mit seiner Partei Fidesz zum dritten Mal in Folge die Parlamentswahl gewinnen. Zwar ist die Unzufriedenheit im Volk gewachsen, doch angesichts der zersplitterten Opposition gelten die Chancen für einen Machtwechsel als gering. Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" plädiert die vormals marxistische, heute liberale 88-jährige ungarische Philosophin Ágnes Heller für eine breite Front gegen Orbán - auch um den Preis der Kooperation der Oppositionskräfte mit der rechtsextremen, sich nun gemäßigter gebenden Jobbik.
"Wiener Zeitung": Ihre Forderung, dass die linksliberalen Parteien mit Jobbik zusammenarbeiten sollen, um Orbáns Partei Fidesz zu stürzen, hat Aufsehen erregt und Widerspruch provoziert...
Ágnes Heller: Ich habe nicht gesagt, dass sie zusammenarbeiten sollen. Sondern: Wenn ein Jobbik-Kandidat für das Parlament mehr Chancen hat, sollen ihn auch Linke wählen. Das ist noch keine Zusammenarbeit. Umfragen zeigen, dass die Sympathisanten der Linken auch Jobbik-Politiker wählen würden und umgekehrt, wenn es der gemeinsame Kandidat aller Oppositionsparteien ist. Nicht die Parteien verbünden sich, sondern die Wähler.
Besteht aber nicht das Risiko, dass Jobbik zu stark wird?
Das ist kein Risiko. Wenn Jobbik stark wird, bedeutet es, dass Fidesz nicht stark wird. Und das ist heute das Wichtigste.
Ist Jobbik nicht rechtsradikal?
Jobbik war rechtsradikal. Jetzt aber ist Fidesz noch rechtsradikaler, im stärksten Sinne des Wortes: Sie sind rassistisch, sie sind gegen Roma, sie sind auch antisemitisch. Und sie lügen Tag und Nacht. Jobbik hat sich jetzt in der Mitte positioniert.
Ist das ernst gemeint?
Mich interessiert nicht, was in der Seele von Jobbik los ist. Rechtsaußen gibt es keinen Platz, den hat Fidesz schon besetzt. Jobbik hat nur noch in der konservativen Mitte Platz. Fidesz kann man nicht mehr rechts überholen.
Welchen ungarischen Oppositionspolitiker mögen Sie am meisten?
Peter Márki-Zay, den neuen Rathauschef in der bisherigen Fidesz-Hochburg Hódmezővásárhely, der vor fünf Wochen überraschend die Bürgermeisterwahl gegen den Fidesz-Kandidaten gewonnen hat. Weil er parteilos ist. Marki-Zay ist ein wunderbarer Mensch. Er hat Führungsqualitäten. Ich glaube, er wird unser nächster Ministerpräsident.
Worin bestehen seine Führungsqualitäten?
In seiner Kompromissfähigkeit. Jobbik hat ihn zuerst vorgeschlagen, ihn erfunden. Erst danach haben auch die Linken und Liberalen ihn unterstützt. Nach der Wahl hat er sofort eine Sozialistin zur Vizebürgermeisterin ernannt. Das heißt für mich: Er weiß, wie man Politik macht.
Was halten Sie von Gergely Karácsony, dem Spitzenkandidaten der Sozialisten und der Kleinpartei Dialog für Ungarn?
Auch Karácsony mag ich. Er ist sehr intelligent, nur versteht er leider gar nichts von Diplomatie. Stellen Sie sich vor, er hat gesagt, er würde als Ministerpräsident keinen Eid auf die Verfassung ablegen. Das kann man tun, aber doch bitte nicht vor der Wahl sagen! Unsere Politiker haben sehr oft keinen Sinn für Diplomatie.
Was haben Ungarns Linke und Liberale sonst falsch gemacht?
Sehr viel. Bis 2005 glaubten sie, dass man die ganze Politik im Parlament erledigen kann. Sie hatten keine Ahnung, welches Volk sie regieren. Sie haben geglaubt, wenn man gute Institutionen hat, reiche das für eine Demokratie. Das stimmt nicht. Demokratie hängt auch von der demokratischen Gesinnung der Bevölkerung ab. Deshalb konnte Fidesz mit seiner Zweidrittelmehrheit das ganze Land besetzen.
Linke und Liberale haben also den Kontakt zu den Massen verloren?
Total. Sie haben sogar den Kontakt zu ihren eigenen Parteimitgliedern verloren. 2010 habe ich im Wahlkampf in der Provinz Aktivisten der inzwischen verschwundenen liberalen Partei SZDSZ getroffen, die mir gesagt haben, dass ihre eigene Zentrale in Budapest sich nicht dafür interessiert, was die Parteifreunde in der Provinz machen. Sie fühlten sich alleingelassen. Das geht so nicht! In den 1990er Jahren gab es die sogenannten "Liberalen Kreise" in den Dörfern und Kleinstädten. Ich hatte dort wunderbare politische Diskussionen. Man hat sie abgeschafft. Und die Politiker waren damit zufrieden, dass sie im Parlament sitzen und eine Fraktion haben.
Haben die Ungarn deswegen 2010 und 2014 Fidesz gewählt?
Alle Welt fragt uns, warum die Ungarn diese Regierung gewählt haben. Die Ungarn haben sie nicht gewählt. Aufgrund des Wahlsystems konnte Fidesz die Zweidrittelmehrheit im Parlament bekommen, obwohl sie 2014 weniger Stimmen hatten als die Oppositionsparteien zusammen.
Können jetzt die vielen Korruptionsvorwürfe gegen Fidesz-Politiker das Blatt wenden?
Korruptionsprobleme gibt es überall. Mit Fidesz ist das Problem ein anderes: Nicht die Regierung hängt von den Oligarchen ab, sondern die Regierung hat die Oligarchen erschaffen. Das ist nicht Korruption, das ist Feudalismus. Sie verteilen Latifundien an Menschen, die sie unterstützen, und zweigen etwas für sich selber ab. Sie haben 20 bis 30 Prozent der EU-Förderungen in die eigene Tasche gesteckt.
Ist also die EU mitschuld an dieser Entwicklung?
Das kann ich nicht beantworten. Ich bin nicht die EU, ich bin ungarische Staatsbürgerin und ich glaube, wir sollten hier aktiv werden, nicht die EU. Wir haben damals, als der Eiserne Vorhang fiel, für unsere Freiheit nicht bezahlt, sondern wir haben sie wie ein Geburtstagsgeschenk bekommen. Aber man muss trotzdem für alles bezahlen. Und jetzt bezahlen wir. Natürlich hätte die EU mehr gegen Orbán tun können. Aber das ist ihr Problem, nicht meines.
Macht es Ihnen nicht Sorgen, dass Fidesz oft Forderungen von Jobbik umgesetzt hat? Zum Beispiel den Grenzzaun gegen Flüchtlinge.
Jobbik hat eine effiziente Grenzpolizei verlangt, nicht den Grenzzaun. Jetzt stützt sich die Fidesz-Demagogie einzig auf das Migrantenproblem - dabei hat Orbáns Regierung über das Staatsanleihen-Programm zehntausende Ausländer hereingelassen.
Sie meinen die Chinesen, Russen und Araber, die von Ungarn Aufenthaltsgenehmigungen und Schengen-Visa bekommen haben, wenn sie für 300.000 Euro ungarische Staatsanleihen kaufen.
Ja. Und das war nicht die Idee von Jobbik, sondern Fidesz hat das gemacht. Dadurch sind wirklich gefährliche Leute nach Ungarn gekommen.
Anscheinend will auch keine der Oppositionsparteien diesen Grenzzaun abreißen lassen.
Richtig, keine Partei will das. Migration ist ein großes Problem, das man aber rational behandeln muss. Flüchtlinge soll man aufnehmen, das ist humanitär. Aber Gastfreundschaft bedeutet kein permanentes Aufenthaltsrecht.
Es gibt Planspiele zum Vorgehen im Fall einer Wahlniederlage Orbáns. Die Rede ist davon, dass die vereinigten Wahlsieger schnell das Wahlrecht ändern und dann sofort Neuwahlen in die Wege leiten. Was halten Sie von dieser Idee?
Das wäre sehr richtig. Gleich nach der Wahl sollte es in diesem Fall eine Übergangsregierung geben von Jobbik und Sozialisten, mit einem parteilosen Ministerpräsidenten, am besten Márki-Zay.
Aber selbst wenn Orbán die Wahl verliert, wird es nicht schwer, seinen Einfluss aufzubrechen? Seine Leute sitzen doch in allen wichtigen Verwaltungspositionen und in der Presse.
Die Presse umzukrempeln ist leicht. Die Ungarn sind doch Opportunisten. Wenn sich die Regierung verändert, ändert sich auch die Presse. Das Problem wird eher der große Reichtum sein, den die Fidesz-Unterstützer wie der Oligarch Lőrincz Mészáros angesammelt haben. Den kann man ihnen nicht wegnehmen, denn es ist Privateigentum.
Käme Jobbik für Orbán als Koalitionspartner in Frage, falls Fidesz die absolute Mehrheit verliert?
Jobbik würde das nie tun. Keine Partei würde mit Fidesz koalieren.
Information: Ungarns Wahlsystem
199 Sitze werden für das Parlament vergeben. Doch nur 93 gehen aus den nationalen Parteilisten hervor. 106 Mandate werden direkt vergeben. Hierbei gilt: Der Kandidat mit den meisten Stimmen in einem Wahlkreis gewinnt den Parlamentssitz, es gibt keine Stichwahl.
Daher müsste die Opposition Geschlossenheit zeigen und sich jeweils auf den aussichtsreichsten Kandidaten in diesen Einzelwahlkreisen einigen, um die Fidesz-Kandidaten zu bezwingen. Doch das ist nach wie vor ein unsicheres Szenario. Vor allem wird der Rückzug eigener Kandidaten zugunsten der Rechtspartei Jobbik abgelehnt. Laut Jobbik-Chef Gabor Vona wäre wiederum der Schlüssel für den Regierungswechsel nicht das Zurückziehen von Kandidaten, sondern eine Wahlbeteiligung von über 70 Prozent.
Den sicheren Einzug ins Parlament sprechen Umfragen außer Fidesz und Jobbik auch dem linken Bündnis MSZP-Parbeszed zu. Ob die bürgerlich-grüne LMP und linke DK über die Fünf-Prozent-Hürde kommen, ist unsicher.
Ágnes Heller forscht zu Sozialphilosophie und politischer Theorie. Geboren 1929, entging sie dem Holocaust nur knapp. Lebt seit ihrer Emeritierung wieder in ihrer Geburtsstadt Budapest. Anfang April erschien ihr Buch "Was ist komisch? Kunst, Literatur, Leben und die unsterbliche Komödie" (Edition Konturen, 272 Seiten).