Auch am Büchermarkt tobt die Schlacht um die Deutungshoheit über Europa.
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In den USA, Großbritannien und Deutschland ist es längst normal, dass rechtzeitig zu Wahlgängen der Büchermarkt mit Biografien und Kampfschriften überschwemmt wird. Sogar im kleinen Österreich mühen sich mittlerweile Kandidaten, Ghostwriter sowie Journalisten, den Wahlkämpfen Konzept und Tiefe in gedruckter Form zu verpassen. Meist bleibt es allerdings beim Versuch.
Die anstehenden EU-Wahlen sind da natürlich ein anderes Kaliber, quantitativ (500 Millionen Bürger!) wie qualitativ, immerhin geht es um so etwas wie eine europäische Demokratie in statu nascendi. Allein in Österreich sind in den vergangenen Monaten etliche Bücher zum Thema Europa erschienen. Im Folgenden ein kritischer Querblick ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Wer auf der Suche nach argumentativer Unterstützung für linke Kampfrhetorik ist, ist mit dem Buch "Supermarkt Europa" des Autoren-Duos Robert Misik und Michel Reimon gut bedient. Misik ist ein bekennender linker Publizist und Blogger, Reimon Kandidat der Grünen für das EU-Parlament, der derzeit noch im burgenländischen Landtag sein Dasein fristet, dafür aber in der Szene der heimischen Twitteranten ein kleiner Star ist.
Die beiden beschreiben das Krisenmanagement und die europäische Politik der Jahre zuvor als "feindliche Übernahme des größten demokratischen Projekts der Menschheitsgeschichte" durch die fiesen Agenten des Neoliberalismus. Abgesehen davon, dass daraus ein gerüttelt Maß an eurozentrischer Hybris spricht (Indiens demokratisches Projekt ist zahlenmäßig mehr als doppelt so groß, und was, wenn erst China den demokratischen Ausbruch wagt?), opfern die Autoren auch gerne die komplexe politische Realität der Kürze ihrer Argumentationskette. Dass etwa die europäischen Verträge eine Haftung für die Staatsschulden einzelner Mitglieder ausschließen (No-Bailout-Klausel), wird nobel übergangen.
Punkten kann die flott geschriebene Streitschrift, wenn es darum geht, den Amoklauf der Finanzindustrie zu schildern. Am Ende ihrer knapp bemessenen 122 Seiten spenden Misik und Reimon sogar Lob für das Erreichte: Bankenunion, Stabilitätspakt, Finanztransaktionssteuer oder mehr Rechte für das EU-Parlament. Natürlich darf ein Plädoyer für Vermögens- und Erbschaftssteuern nicht fehlen, um so Geld für einen europäischen "Marshall-Plan" aufzustellen.
Direkt aus dem Entscheidungszentrum der Union berichten in "Europas Drahtzieher" die beiden Brüsseler Korrespondenten Cerstin Gammelin ("Süddeutsche Zeitung") und Raimund Löw (ORF). Den beiden ist es gelungen, an die streng vertraulichen Protokolle der Sitzungen der Staats- und Regierungschefs am Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise zu kommen. Mithilfe dieser Aufzeichnungen und dank vieler Insider-Berichte zeichnen sie im ersten Teil des Buches detailliert nach, wie hinter verschlossenen Türen nach dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers 2008 um das Überleben des Euro und die Rettung Griechenlands gerungen wurde. Es ist diese Insider-Perspektive, die "Europas Drahtzieher" auszeichnet, denn wie es tatsächlich auf europäischen Gipfeltreffen zugeht, ist ein wohlgehütetes Geheimnis. Dass darüber praktisch nichts an die Öffentlichkeit dringt, darf getrost als demokratisches Defizit der EU gröberer Ordnung bezeichnet werden.
Gammelin und Löw gelingt es, eine trotz unverblümter Kritik durchaus stimmige Skizze von Europas heimlicher Regentin, Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, vor den Lesern auszubreiten. Auch das Porträt der mächtigen, für die Öffentlichkeit aber völlig unsichtbaren Catherine Day, der Generalsekretärin der EU-Kommission, ist ein Kleinod. Schade dagegen, dass die Autoren zwar stets der deutschen Perspektive breiten Raum geben, Austriaka aber oft nicht einmal eine Nebenrolle spielen. Dabei ist das Wechselspiel zwischen heimischen Medien und Politik per se nicht uninteressanter als jenes in Berlin. Letzteres wird eingehend analysiert, Ersteres nicht einmal gestreift; ähnlich verfahren die Autoren auch beim Thema Lobbying. Und wenn - völlig zu Recht - vor einem Erstarken der extremen Rechten bei der EU-Wahl gewarnt wird, verwundert es, dass die Rolle linker Populisten wie Alexis Tsipras oder Beppe Grillo nicht einmal erwähnt wird.
"Im Maschinenraum Europas" steht dagegen in der Tradition des "embedded journalism". Die Journalistin Heike Hausensteiner, ehemals bei der "Wiener Zeitung", unternimmt den von der S&D-Fraktion gesponserten Versuch, Persönlichkeit und Alltag der fünf SPÖ-Mandatare im EU-Parlament zu beschreiben. Der kritische Aspekt bleibt dabei naturgemäß auf der Strecke, weshalb die roten Hackler im Maschinenraum ausnahmslos engagiert, sympathisch und voller Sachkompetenz sind. Dabei ist das durchschnittliche Arbeitspensum eines EU-Abgeordneten wahrscheinlich um einiges höher als jenes eines Nationalratsmandatars, nur bleibt dieses Faktum weitgehend unbekannt.
Irritierend wirkt dagegen, wenn Delegationschef Jörg Leichtfried wiederholt zur Top-Führungsriege der SPÖ gezählt wird. Die Realität schaut so aus, dass die tatsächliche Führung der Partei dem durchaus fähigen EU-Parlamentarier die Spitzenkandidatur für die Wahl nicht zugetraut und stattdessen ORF-Anchorman Eugen Freund aus dem Hut gezaubert hat. Oder wenn Leichtfried die "Vereinigten Staaten von Europa" als deklariertes Fernziel beschreibt, die SPÖ diese Vision im Wahlkampf aber ablehnt.
Keinen missionarischen Anspruch erhebt dagegen "Europa wohin?" mit seinen 107 Seiten; das Büchlein will vor allem nüchterne und praktische Infos über Europa und die Wahlen bieten. Den Kern bilden Interviews mit den EU-Spitzenkandidaten Othmar Karas (ÖVP), Freund (SPÖ), Ulrike Lunacek (Grüne) und - obwohl mittlerweile zurückgetreten - Andreas Mölzer (FPÖ) sowie Grundsätzliches zur Zukunft der Union von Franz Fischler und heimischen Journalisten.
Buchtipps
Cerstin Gammelin und Raimund Löw: Europas Drahtzieher. Wer in Brüssel wirklich regiert, Econ Verlag Berlin 2014; 20,60 Euro, 384 Seiten
Robert Misik und Michel Reimon: Supermarkt Europa. Vom Ausverkauf unserer Demokratie, Czernin Verlag Wien 2014; 7,90 Euro
Heike Hausensteiner: Im Maschinenraum Europas. Die österreichische Sozialdemokratie im Europäischen Parlament, Czernin Verlag Wien 2013; 19,90 Euro
Herwig Hösele (Hg.): Europa wohin? Statements, Informationen, Daten & Fakten, Leykam Verlag Graz 2014; 9,50 Euro