Die Krise der politischen Systeme in Europa erinnert an die Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
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Wien. "Formeln aus dem Arsenal des Sozialdarwinismus und der Nietzsche’schen Philosophie gehörten (...) in den höheren Sphären von Politik und Gesellschaft zur allgemeinen Weltanschauung. Aufgrund ihrer antidemokratischen, elitären und militanten Tendenz eigneten sie sich vorzüglich als ideologische Hilfsmittel, mit denen die unbeugsam rückwärts gewandten Elemente der herrschenden und regierenden Klassen ihren tiefwurzelnden und stets regen Antiliberalismus (...) gleichsam erheben, intellektualisieren konnten."
So beschrieb der Historiker
Arno Mayer die Epoche des "Fin de Siècle" ("Ende des Jahrhunderts"), die sich von 1890 bis zirka 1918 zog.
Diese Beschreibung passt erstaunlich exakt ins Jahr 2015. "Wenn das eure Vorstellung von Europa ist, dann können wir es lassen", rief Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi seinen 27 Kollegen beim EU-Gipfel am 25. Juni 2015 wütend zu. Es ging um Flüchtlinge, denn die Regierungschefs wollten sich nicht auf eine verbindliche Quote zur Verteilung der in Europa Schutzsuchenden festlegen. In der EU leben 500 Millionen Menschen, bei der Debatte in Brüssel ging es um 60.000 Flüchtlinge.
Griechenlands Regierungschef Alexis Tsipras antwortete am selben Abend auf die Vorhaltung
von EU-Ratspräsident Donald Tusk, das Spiel sei vorbei: "Das ist kein Spiel. 1,5 Millionen Arbeitslose, drei Millionen Arme und tausende Familien ohne Einkommen, die von der Rente ihrer Großeltern leben. Unterschätze nicht, wozu ein gedemütigtes Volk fähig ist. Künftige Historiker würden nicht verstehen, dass wir mit unserem Vorschlag zu keiner Einigung kamen."
Demokratie bedeutet, andere Meinungen zu akzeptieren
Schnitt. Wien. Am Tag davor trafen sich im Bundeskanzleramt die Spitzen der Regierung und Landeshauptleute. Auch sie berieten zum Thema Flüchtlingsunterbringung. Am Ende standen die Landeshauptleute auf und verweigerten jegliche Zugeständnisse. Vergleichbares spielt sich gerade in der Bildungspolitik ab.
Die Vorfälle haben eines gemeinsam - die Weigerung, einen Kompromiss einzugehen, sprich: sich von niemand was vorschreiben zu lassen. Das ist demokratiepolitisch unerhört. Der Satz eines gewählten Politikers, sich von niemand etwas vorschreiben zu lassen, führt Wahlen ad absurdum. Friedrich Nietzsches "Übermensch" als Sinnbild des Fin de Siècle lässt grüßen.
Wie vor Beginn des 20. Jahrhunderts macht sich Unsicherheit breit - in so gut wie allen gesellschaftlichen Schichten. Russlands Aggression gegen die Ukraine und die martialische Reaktion der Nato nährt die Angst vor einem Krieg. Die Griechenland-Debatte nährt materielle Unsicherheit.
Immerhin steht die gemeinsame Währung Euro dabei im Mittelpunkt. Neue Entwicklungen wie "Industrie 4.0" befeuern die Angst, dass Automaten menschliche Arbeitskraft millionenfach ersetzen. Terror und Klimawandel reduzieren unsere Lust, die Welt zu entdecken. Als Ersatz dient neuerlich seelische Innenschau.
Eine "Fin de Siècle"-Stimmung macht sich breit, Endzeitstimmung und Neugier beäugen sich misstrauisch. Politische Syste-
me, mühsam nach 1945 aufgebaut, erweisen sich als unbrauchbar. Doch was wird an ihre Stelle treten?
Es gibt darauf nicht keine Antwort, sondern sehr viele Antworten. Durchgesetzt hat sich noch keine. In der politischen Strategie hat die FPÖ mit dem Slogan der "sozialen Heimatpartei" die Stimmung erkannt. Die Herrschenden beweisen durch ihre Reaktionen, dass sie keine Ahnung haben, was zu tun wäre. Die Kunst entfernt sich vom Politischen. "Blaubarts Burg", eine der besten Inszenierungen der diesjährigen Wiener Festwochen, war dafür beispielhaft. Der kraftvollen Musik Béla Bartóks stehen am Ende Schumanns "Geistervariationen" gegenüber. Der Kontrast könnte nicht größer und skurriler sein.
Damals endete der Umbruchim Großen Krieg
So geht es der Gesellschaft auch, ähnlich ist es ihr im ausgehenden 19. Jahrhundert gegangen, als der Begriff "Fin de Siècle" geprägt wurde. Auch damals gab es tiefe Umbrüche - politische und industrielle Revolutionen, begleitet von philosophischen und künstlerischen. Damals kulminierte der große Kontrast im Großen Krieg 1914, der in der Folge in Europa Faschisten und in Deutschland die Nazis an die Macht spülte. Auch heute stehen extreme Parteien in der Wählergunst bei zirka 30 Prozent. Hitler wurde seinerzeit mit 33 Prozent gewählt...
Wegbereiter damals waren - neben der Weltwirtschaftskrise - philosophische Gedanken wie Nietzsches "Wille zur Macht". "... Diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens . . . dies mein Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt . . . Wollt ihr einen Namen für diese Welt? . . . Ein Licht für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? . . . Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts außerdem! Und auch ihr seid dieser Wille zur Macht - und nichts außerdem!" Damit exkulpierte Nietzsche all jene, die aus der Geschichte nichts lernen mochten oder konnten.
Auch wenn es hart klingt, aber der Satz des Tiroler Landeshauptmanns Platter vom Juni 2015, wonach er sich sicher nichts vorschreiben lässt, vor allem nicht von Wien, fußt auf den Sätzen Nietzsches. (Im Ohr ertönt dabei Wagners Walkürenritt.)
Diese neue "Fin de Siècle"-Befindlichkeit wird unterstützt durch eine seltsame Eigenschaft der modernen Demokratie. Sie hat ihre Institutionen so organisiert, dass erstens grundlegende Veränderungen unmöglich geworden sind, und zweitens keine Verantwortlichkeiten mehr vorhanden sind. In Europa hat sich der Europäische Rat, also die jetzt 28 Regierungschefs, in den Lissabon-Vertrag hineingeschrieben. Das führt dazu, dass etwa die Bankenunion, ein Kernstück der Lehren aus der Finanzkrise, auf bilateralen Verträgen der 28 ruht. Das gewählte (!) Europaparlament hat dabei eine interessierte Zuschauerrolle. Dass unter diesen Regierungschefs wesentliche Themen einstimmig beschlossen werden müssen, bringt jede Veränderung zum Stehen.
Oder das Beispiel Hypo: Sehenden Auges sind die Institutionen der Republik ins Milliarden vernichtende Verderben gelaufen, weil jeder Beteiligte nur seine gesetzliche Form erfüllte, aber niemand dem Sinne nach. "Ich habe nichts falsch gemacht", das wurde zum Leitspruch für politische und gesellschaftliche Prozesse.
Genau das ist der Untergang. Europa stolperte 1914 schlafwandlerisch in den alles vernichtenden Krieg, wie der Historiker Christopher Clark eindrucksvoll beschrieb. Schlafwandler sitzen auch 2015 wieder in den diversen Regierungssitzen.
Intellektuelle wenden sichvon der Politik ab
Die Intellektuellen wenden sich daher in Scharen von der Politik ab, wie schon im "Fin de Siècle". Vielleicht werden unsere Nachfahren in 120 Jahren feststellen, dass in diesen Jahren ewig gültige Gedanken und Kunstwerke entstanden sind. Für die Gegenwart ist es weniger innovativ, sie wird beherrscht von Unsicherheit und Überheblichkeit.
Das Schlagwort der "kontrollierten Demokratie" geistert herum, und niemand ist da, der klarmacht, dass dies bloß eine Umschreibung von Entscheidungs- und Verantwortungslosigkeit.
Im "Fin de Siècle" rund um die Wende zum 20. Jahrhundert haben verbrauchte Monarchien Europa zerstört. Im "Fin de Siècle" des frühen 21. Jahrhunderts sind verbrauchte "Wille zur Macht"-Politiker drauf und dran, dasselbe zu tun. Diesmal ohne Millionen Tote, aber mit desaströsen Auswirkungen auf das Lebensgefühl.
Der "Fin de Siècle"-Teil 1 war allerdings auch die Geburtsstunde der Avantgarde. Von deren kulturellen und sozialen Leistungen lebt die Zweite Republik bis heute. Der große Unterschied zu damals liegt in der Wahrnehmung von Zeit. Eine digitale Welt gibt Europa nicht mehr viel Zeit.