Washington. (dpa) Eigentlich redet John McCain lieber über Vaterland, Ehre und Verteidigung, die Finanzwelt ist ihm eher fremd. Ausgerechnet am Montag, als sich unter der Wall Street der Boden auftat, verkündete er abermals, die US-Wirtschaft sei im Grunde stark. Stunden später ruderte er zurück, beklagte die totale Krise und die Gier, die gleichermaßen in Brokerhäusern wie in Washington regiere. Ganz unrepublikanisch präsentiert sich der Senator aus Arizona seither als flammender Bannerträger der Finanzmarkt-Regulierung, der die Wall Street zur Verantwortung zieht - eine Strategie, die für McCain, der sich zuletzt in zahlreichen Umfragen vor seinen demokratischen Rivalen Barack Obama hatte schieben können, aber auch zum Bumerang werden könnte.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 16 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Genüsslich listete die "Washington Post" all die Gesetzesinitiativen auf, in denen er sich für das genaue Gegenteil stark machte. So legte er 2002 einen Entwurf zur Deregulierung des Breitband-Internetmarktes vor. Drei Jahre zuvor hatte er sich mit anderen Republikanern für die Abschaffung der strikten Abgrenzung von Bank-, Investment- und Versicherungsgeschäft eingesetzt. Das entsprechende Gesetz habe in der Konsequenz jetzt ins Trudeln geratenen Häusern wie AIG und Lehman Brothers den Weg geebnet, mit faulen Krediten und Investments beladene Giganten zu werden, urteilt die Zeitung.
McCain wettert gegen lasche Aufsicht
Als hätte er nicht ein Vierteljahrhundert im US-Kongress verbracht, wettert McCain gegen die lasche Aufsicht der Regulatoren in Washington, deren Arbeit zersplittert, unscharf und ineffektiv sei. Jene indes, die an den Märkten das große Rad drehen, hätten sich in ihrem endlosen Streben nach schnellem Geld Investments ausgedacht, die sie selbst nicht verstehen.
Die Absicht des Senators ist für die "Washington Post" unterdessen nicht schwer zu durchschauen: "McCain will vom Zorn der Wähler profitieren, die nach einem Schuldigen für die Wirtschaftskrise suchen, die den Wert ihrer Häuser, ihre privaten Renten und ihre Konten bedroht."
Seinem demokratischen Rivalen Obama ist die plötzliche Kehrtwende freilich nicht entgangen. Der Senator aus Illinois spottet über die wiederentdeckte Unterstützung für Regulierung durch den Republikaner. Die Ereignisse der vergangenen Tage seien nicht weniger als das endgültige Urteil über eine Wirtschaftsphilosophie, die komplett gescheitert ist.
Obama kann sich im Aufwind fühlen, gehört eine stärkere Rolle des Staates in Wirtschaftsfragen doch zu den traditionellen Forderungen der Demokraten. Und die Krise kommt zur rechten Zeit: Seit McCain Sarah Palin zu seiner Vizekandidatin kürte, beherrscht die Gouverneurin aus Alaska praktisch die Schlagzeilen und Bildschirme in den USA. Das Obama-Lager, das eine Reform des Finanzsektors im Programm stehen hat, sieht die Turbulenzen als Gelegenheit, wieder Schwung zu gewinnen.