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Die "Robustheit" von Organismen ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnisdes evolutionären Designs. | des evolutionären Designs.
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Wer es in diesen Tagen geschafft hat, sich vor der lähmenden Hitze in einen Schatten zu retten, den konnte schon ein Staunen überkommen - nämlich über die generell Robustheit von Lebewesen. Sie sind in ihren ökologischen Nischen mehr oder weniger gut angepasst, aber sie funktionieren auch dann noch, wenn die Betriebsbedingungen für das biologische System längst nicht mehr optimal sind.
Dieses Staunen ist natürlich kein neues Phänomen. Schon seit mehr als hundert Jahren ist man implizit immer wieder auf das Thema zurückgekommen - etwa, wenn man den Mechanismen nachging, welche die Körpertemperatur eines Organismus regeln. Es geht aber nicht nur um das Bewältigen von Umweltfaktoren, sondern auch um Störungen der Inputsysteme, durch nicht optimal gebaute Systemkomponenten wie Organe, die unvermeidlich altersbedingte Verschleißerscheinungen zeigen, oder um Systemstörungen, die durch Verletzungen oder attackierende Krankheitserreger hervorgerufen werden.
Störung oder Zerstörung?
Robustes Verhalten angesichts äußerer oder innerer Störungen ist eines der Charakteristika von Lebewesen: Äußere und innere Bedingungen können in einem erstaunlich großen Bereich variieren, ohne dass vitale Funktionen angegriffen werden. Wenn jede Störung das System gleich zerstören würde, hätten die Evolutionsmechanismen keine Chance. Biologische Systeme müssen daher in einem bestimmten Ausmaß robust sein, um die Chance zu haben, sich evolvieren zu können.
Diese Entwicklungsfähigkeit gehört zu den wichtigsten Systemeigenschaften von Organismen, und Robustheit ist eine ihrer Komponenten. Die Evolution selektiert daher Merkmale, welche die Robustheit erhöhen. Es ist manchmal schwierig zu entscheiden, ob ein bestimmtes Merkmal wirklich eine Adaptation ist oder einfach nur das unbeabsichtigte Nebenprodukt der Selektion irgendeines anderen Merkmals - sozusagen ein "Trittbrettfahrer-Phänomen". Wenn ein Merkmal die Robustheit eines Organismus stärkt, dann sehen heutige Biologen darin ein wichtiges Indiz dafür, dass es ein Produkt der Selektion mit adaptivem Sinn ist.
Da alle lebenden Organismen Produkte der Evolution sind, ist Robustheit eine allen gemeinsame Systemeigenschaft - im Detail ist sie jedoch nur aus ihrer Evolutionsgeschichte erklärbar. Das macht Robustheit zu einem heißen Thema in der Evolutionsbiologie, die sich - nachdem die molekularen Bausteine und Prozesse weitgehend geklärt sind - immer stärker der "Systembiologie" zuwendet.
Peter Hammerstein vom Institut für Theoretische Biologie der Berliner Humboldt Universität schreibt über die neue Aktualität der Diskussion um die Robustheit: "Wenn man behaupten würde, dass Robustheit in den Life Sciences ein neues Thema sei, dann könnte das wie ein Versuch aussehen, alten Wein in neuen Flaschen zu verkaufen. Das Neue daran ist jedoch die Einsicht, dass Robustheit ein Schlüssel zum Verständnis des evolutionären Designs aller lebenden Systeme ist."
Robuste Funktionstüchtigkeit ist natürlich auch das Ziel von Ingenieuren, die technische Systeme planen. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass biologische Systeme nicht geplant wurden, sondern im Lauf der Evolution entstanden sind. Wer sie verstehen will, muss die selektiven Kräfte untersuchen, die sie geformt haben.
Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den in der Evolution entstandenen Strategien zur Erreichung robuster biologischer Systeme und den Strategien, die Techniker mit dem gleichen Ziel anwenden. Es wurde bereits eine große Zahl von Methoden identifiziert, mit denen sich die Robustheit von Systemen erhöhen lässt. Sie werden sowohl in biologischen, als auch technischen Systemen eingesetzt.
Wie die Kontrolltechniker, so arbeitet auch die Evolution mit positiven und negativen Rückkopplungskreisen. Beide verwenden spezialisierte, modulare Systeme, damit Störungen in einem bestimmten Modul nicht sofort das ganze System beeinträchtigen können. Eine andere, gegen Systemfehler hilfreiche Strategie ist das Einbauen von Redundanz: zur Erfüllung derselben Funktion steht mehr als ein System zur Verfügung. (Zwei Nieren sind besser als eine.)
Wer die funktionelle Architektur der Organismen vergleicht, sieht, dass darin - auf unterschiedlichem hierarchischem Niveau - eine Schleifen-Struktur wiederkehrt, in der die Evolvierbarkeit und die Robustheit in zwei Charakteristika verankert sind. Von genetischen Netzwerken bis hinauf zu ihren sozialen Strukturen gibt es einen evolutionär stabilen Kern all der Prozesse, die für das Überleben des Systems wesentlich sind. Dieser Kern ist an die entscheidenden In- und Outputs gekoppelt. Darüber hinaus existiert aber eine weitere Struktur funktionaler Schleifen, die offener für Neuheiten sind.
Kompromisse
Auf welchem der vielen Wege Robustheit auch immer erreicht wird - sie hat jedenfalls ihre Kosten, welche Kompromisse erzwingen. Eine gute Illustration dafür ist die Lernfähigkeit von Systemen: Die Fähigkeit, lernen zu können, macht das System robuster. Schon die einfachsten Organismen sind dazu gezwungen. Wasserflöhe haben zum Beispiel die Fähigkeit entwickelt, sich gegen Räuber dadurch zu schützen, dass sie bei Verdacht große, schutzhelm-ähnliche Strukturen entwickeln. Deren Bau hat allerdings den Nachteil, dass er aufwendig ist. Es war daher ein großer Fortschritt für die Robustheit des Gesamtsystems, als die Wasserflöhe chemische Sensoren entwickelten, welche die Anwesenheit der Räuber detektieren können. Erst wenn ein dabei erzeugtes Signal Gefahr meldet, beginnen die Wasserflöhe den Bau der Schutzhelme zu aktivieren.
Das Immunsystem ist eines der komplexesten Systeme der Evolution. Es verschafft Wirbeltieren Robustheit zur Abwehr eines extrem weiten Spektrums von Pathogenen. Die natürliche Selektion war außerstande, gegen jeden einzelnen pathogenen Eindringling eine spezifische Abwehrreaktion zu entwickeln, aber sie hat - so Peter Hammerstein - eine mächtige Abstraktion "entdeckt": Die Proteine der Eindringlinge unterscheiden sich in bestimmten molekularen Oberflächenstrukturen von den körpereigenen Proteinen. Ohne jede Instruktion von außen hat der Prozess der natürlichen Selektion von selbst etwas über eine abstrakte, aber über evolutionäre Zeiträume stabile Eigenschaft der Umwelt "gelernt". Es ist ein hoch spezialisiertes zelluläres Abwehrsystem entstanden, das einen Eindringling als pathogen identifiziert, indem es ihn als fremdes Protein erkennt.
Aber auch diese Virtuosenleitung hat eine Schattenseite: Die Spezifität der Erkennungsreaktion ist nicht absolut - Pannen führen zu Autoimmunerkrankungen.
Immer machen gerade die Prozesse, die ein System für eine spezifische Herausforderung robust machen, es auf einer anderen Seite auch verletzlicher. Ein Teil der Evolution zu den heutigen Menschen verlief unter äußeren Bedingungen, welche einen Lebensstil notwendig machten, bei dem ein hoher Energieaufwand benötigt wird, um in einer Umgebung mit begrenzten Ressourcen überleben zu können. Daran ist die Physiologie der Menschen hinreichend robust angepasst. Heutige Menschen leben jedoch in den reichen Ländern einen anderen Lebensstil: Sie verbrauchen wenig Energie und verfügen über einen Überfluss der überlebenswichtigen Ressourcen. Das Resultat ist das immer häufiger werdende Auftreten von Diabetes.
Die Aufklärung solcher Aspekte könnte auch bei anderen medizinischen Problemen erhellend werden. Hiroaki Kitano illustriert das an einem Beispiel: Man könnte vielleicht klinische Strategien gegen Krebs auf der Kenntnis der Robustheitsquellen von Krebszellen aufbauen und entweder die robust machenden Mechanismen stören oder sie manipulieren. Die Evolution der Lernfähigkeit ist oft eine sehr effektive Strategie zur Steigerung der Robustheit eines Organismus. Aber selbst die spezifischen Formen des Lernens haben ihren Preis. Sie vermögen zwar jeweils bestimmte Kosten der Robustheit zu senken, verursachen aber andere.
Peter Hammerstein illustriert das an einem plakativen Beispiel: Stellen Sie sich jemanden vor, der den Ernährungswert von Pilzen mittels der natürlichsten aller evolutionären Lernstrategien - Versuch und Irrtum - herausfinden will. Das kann tödlich sein. Größere Chancen hätte der Versuch, das Verhalten anderer zu imitieren, welche bestimmte Pilze gekostet haben und nicht daran gestorben sind. Lernen durch Imitation kann daher ein besonders billiger Weg zu Robustheit sein.
Richard Boyd und Peter Richardson, spezialisiert auf die Verschränkung von biologischer und kultureller Evolution, sehen darin sogar den Schlüssel zum Verständnis des evolutionären Ursprungs der funktionalen Architektur des Gehirns, welche kulturelle Transmission ermöglicht und damit die Robustheit vor allem der Menschen so gesteigert hat, dass sie selbst unter den härtesten Umweltbedingungen überleben können.
Die Suche nach den Strukturen und Prozessen, welche Organismen Robustheit verschaffen, ist in der Biologie zum aktuellen Erklärungsparadigma geworden. Sie ist ein Unterfangen für klare und kühle Köpfe - wie sie in diesen Tagen der brütenden Hitze eben nur schwer zu erzeugen sind.
Literatur:Peter Hammerstein, Edward H. Hagen, Andreas V.M. Herz, Hanspeter Henzel: Robustness. A Key to Evolutionary Design. Biological Theory 1 (2006), S. 90 - 93.
Hiroaki Kitano: Biological Robustness. Nature Review Genetics 5. November 2004, S. 826 -837.
ist Professor für Analytische Chemie an der Universität Wien, wo er auch Methodik der Naturwissenschaften lehrte. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolution und Kognitionsforschung und des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.