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Finnische Lektionen

Von Hermann Schlösser

Reflexionen

Finnland ist heuer Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse - die Literatur des Landes präsentiert sich in zwei Sprachen und ist einerseits weltläufig, andererseits regional.


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Auch das ist ziemlich cool: Wenn man sich aus Helsinki nur ein wenig auf das Meer hinausbewegt, ist man sofort umgeben vom Licht und vom Blau des Nordens.
© Foto: Hermann Schlösser

"Finnland Cool"- mit diesem Slogan präsentiert sich der Ehrengast der heurigen Frankfurter Buchmesse. Das schmückende Beiwort ist gut gewählt, denn es funktioniert im Englischen wie im Deutschen. Lässig, weltoffen, unkompliziert, "cool" eben - so möchte Finnland gesehen werden, obwohl es ja zugleich auch das Image des vorbildlichen Schul- und Bildungslandes hat. Dass dabei auch eine Assoziation an das kühle nordische Klima mitschwingt, ist wohl beabsichtigt.

Man sieht also schon an einem Wort, dass der Gastauftritt in Frankfurt umsichtig vorbereitet wurde. Die Vermittlerorganisation "FILI" (Finnish Literature Exchange) hat jahrelang auf das Ereignis hingearbeitet, und dabei Journalistinnen und Journalisten eingeladen, sich in Helsinki selbst ein Bild von der finnischen Literaturszene zu machen.

Helsinki literarisch

Auch diese viertägige Pressereise war einfallsreich konzipiert: Man traf mit unterschiedlichen Autorinnen und Autoren zusammen, und zwar im jeweils passenden Ambiente. So wurde in einem Restaurant, das einstmals ein Gefängnis gewesen ist, über finnische Krimis diskutiert.

Die international bekannte Leena Lehtolainen, deren Roman "Wer ohne Schande ist" heuer bei Kindler erschienen ist, erklärte, sie sei von Haus aus Literaturwissenschafterin und habe durch ihre Forschungen begriffen, dass die Kriminalliteratur zu den wenigen Genres gehöre, die noch eine breite Leserschaft ansprächen. Auch werde im Krimi eine erkennbare regionale Identität der Akteure gewünscht, weshalb sich die Abenteuer der Kommissarin Maria Kallio gut dazu eigneten, finnische Atmosphären und Pro-bleme zu vermitteln.

Allerdings macht der Krimi auch vor interkulturellen Problemen nicht Halt. Kati Hiekkapelto überlässt in ihrem Thriller "Koli-bri" (Heyne) die Ermittlungsarbeiten der Kommissarin Anna Fekete, die einen ungarischen Migrationshintergrund hat. Auf die Anmerkung, dass es aber so gut wie keine ungarischen Migranten in Finnland gäbe, meinte die Autorin souverän: "Eben deshalb muss man sie erfinden."

Szenenwechsel: Die "Villa Kivi" ist ein idyllisch gelegenes Holzhaus mit Seeblick, in dem Schriftsteller arbeiten können. In diesem edlen Literaturhaus stellte unter anderem der Romancier Philip Teir seinen Roman "Winterkrieg" vor (Blessing Verlag). Man muss kein Finnlandkenner sein, um das Personal dieses Romans wiederzuerkennen: der alternde Soziologieprofessor, der eine etwas gehemmte Affaire mit einer jüngeren Studentin anfängt, die genderbewusste Schuldirektorin mit dem "Psycholächeln" oder die desorientierte junge Frau, die in London Kunst studiert und mit ihrem Lehrer ins Bett geht - das sind Figuren, die in deutschsprachigen, englischen oder französischen Romanen ebenso auftreten könnten.

Schicksalsjahr 1939

Dennoch entspricht Teirs Roman nicht völlig der EU-Norm. Der erwähnte Soziologieprofessor ist zwar ein Mitglied der internationalen scientific community, zugleich werden manche seiner Verhaltensweisen jedoch ausdrücklich darauf zurückgeführt, dass er ein "österbottnischer Finnlandschwede" sei. Auch Teir selbst gehört zur sogenannten "finnlandschwedischen" Minderheit und schreibt auf Schwedisch. Für Landesfremde ist es jedoch nicht ganz leicht zu ermessen, durch welche Besonderheiten sich ein "österbottnischer Finnlandschwede" auszeichnet.

Der Titel des Romans, "Winterkrieg", spielt auf ein schicksalhaftes Ereignis der finnischen Geschichte an: den Krieg im Jahr 1939, in dem sich das kleine Finnland gegen den großen Nachbarn Russland behaupten musste. Der "Winterkrieg" in Teirs Roman ist zwar nur eine Ehekrise, die aber auf den Tag genau so lang dauert wie der heroische Kampf von einst. Auf die Frage, ob diese Ironie in Finnland schockierend oder belustigend wirke, meinte der Autor, mittlerweile könne man sich solche Respektlosigkeiten schon erlauben, während man in früheren Jahrzehnten etwas vorsichtiger hätte sein müssen.

Lyrische O-Töne

Der Club "Dubrovnik" (Besitzer: Ari Kaurismäki) ist ein kultureller Treffpunkt in Helsinki.
© Foto: Hermann Schlösser

Und damit weiter in den Club "Dubrovnik", der dem Filmemacher Ari Kaurismäki und dessen Bruder Mika gehört. Dieser Kellerraum mit nostalgischem Fünziger-Jahre-Flair wird für Film- und Literaturveranstaltungen genutzt. Die Besucher aus Deutschland und Österreich wurden hier in die finnische Lyrik-Szene eingeführt. Es wurde berichtet von achtstündigen Poetry Slams und von Experimenten im Zwischenbereich von Musik und Text.

Dann lasen zwei Dichterinnen und ein Dichter: auf Finnisch Henriikka Tavi und Jouni Inkala, auf Schwedisch Matilda Södergran. Wer Lust dazu hatte, konnte sich von der unverständlichen Wortmusik einfach umgarnen lassen, wer aber auch wissen wollte, wovon die Rede war, konnte den Übersetzungen folgen, die auf die Leinwand im "Dubrovnik" projiziert wurden. Dort stand dann etwa zu lesen: "Ein Palast so verwinkelt, dass man das Ziel nur mit Findigkeit erreicht". Das ist eine Zeile aus dem Band "Der Gedankenstrich eines Augenblicks" von Juoni Inkala, der in Stefan Mosters Übersetzung im Wunderhorn Verlag erschienen ist.


Auf Krimis, Gesellschaftsromane und Lyrik folgte die humoristische Literatur. Sie wurde in einem kleinen Kaffeehaus vorgestellt: Zwei ernste Herren namens Roope Lipasti und Tuomas Kyrö, die beide betonten, dass Humoristen niemals lustig seien, dachten über den finnischen Witz nach. Lipasti ist auf der Buchmesse mit dem Roman "Ausflug mit Urne" (Blessing) vertreten, in dem zwei Brüder die Asche ihres Stiefgroßvaters durch Finnland transportieren. Kyrö beschreibt in "Kunku" (Hoffmann und Campe) das Schicksal eines Königs, der lieber Automechaniker von Beruf wäre.

Beide Autoren waren sich einig darüber, dass der finnische Humor früher sehr simpel und brachial gewesen sei, sich aber mittlerweile - vor allem durch englische Einflüsse - verfeinert habe. Man lache in Finnland am liebsten über Menschen, die im Grunde liebenswert seien, denen aber irgendetwas Dummes oder Ungeschicktes zustoße. Eine deutsche Journalistin wollte wissen, ob es auch in Finnland "politisch inkorrekt" sei, Witze über Minderheiten zu machen. Darauf sagte Tuomas Kyrö in der Sprache, die während der ganzen Reise die Umgangssprache war: "I don‘t give a shit about political correctness!"

"Glokale" Literatur

So viel über die Literaturreise nach Helsinki. Die sympathischen und gescheiten FILI-Mitarbeiterinnen (Mitarbeiter gibt es dort nicht) legten Wert auf die Feststellung, dass die finnische Literatur sehr vielfältig sei, und dass es weder ein bevorzugtes literarisches Genre, noch eine ausgeprägte thematische Präferenz gebe. Gerade weil sich die finnische Literatur erst sehr spät und auch sehr ungeregelt entwickelt habe, habe sie heute eine große Bandbreite: vom Krimi bis zum Comic, von der Lyrik bis zur Satire. Da das Leben einerseits sehr auf sich bezogen, andererseits aber in europäische Zusammenhänge eingebettet sei, entstehe in Finnland eine "glokale" Literatur: global und lokal zugleich.

Ob sich diese Literatur in Frankfurt behaupten kann? 130 finnische Bücher sind zur Messe auf Deutsch erschienen. Aus diesem Angebot kann man sich bedienen. Aber vorläufig scheint das deutschsprachige Feuilleton vor allem auf einen Star fixiert zu sein: Sofi Oksanen, die exzentrische Autorin, die in Estland lebt und international vernetzt ist. Sie hält die Eröffnungsrede der Buchmesse, und die meisten Vorschusslorbeeren der Medien gelten ihr und ihrem Roman "Als die Tauben verschwanden" (Kiepenheuer & Witsch).

Nun ist es normal, dass sich der Kulturbetrieb auf einen Star kapriziert. Außerdem ist es ja nicht einfach, all die schwierigen finnischen Namen im Gedächtnis zu behalten. Aber trotzdem sind die Literaturkritik und die Leser heuer eingeladen, mehr als eine finnische Lektion zu lernen.