Der italienische Schriftsteller inszenierte vor 100 Jahren seine präfaschistische Konzeption von Führertum.
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Gabriele D’Annunzio, Dichtersoldat und Heldendarsteller im Ersten Weltkrieg, machte den Tod anziehend. Bei seiner im September 1919, lang nach Kriegsende, mit theatralischem Pomp angezettelten "Eroberung" der Adriastadt Fiume ließ der politische Aktionist und Pionier der modernen Massenaufhetzung seine Besatzungssoldateska erstmals jene schwarzen Hemden mit aufgemalten Totenköpfen und Knochen tragen, die dann zum Habitus von Benito Mussolinis Faschismus wurden.
Dem Totenkult, einer die narzisstische Ich-Vergrößerung kompensatorisch ergänzenden Vernichtungsfeier, war der kleinwüchsige Panegyriker von Macht, Gewalt und Manneshochmut von jeher verfallen. Nun, nach einigen seinen nationalen Ruhm lichterloh befeuernden handstreichartigen Kriegsaktionen, sah der 56-jährige D’Annunzio die Stunde gekommen, Lebens- und Werksanspruch auf gloriose Weise in Einklang zu bringen. Sein Heißhunger auf Macht, zähneknirschend literarisch gebändigt in zahllosen Texten voll delirierenden Vernichtungsphantasien, drängte darauf, gestillt zu werden. Der Ästhetizismus seiner hemmungslosen Selbststilisierung, die Exaltiertheit seiner theatralischen Auftritte waren auf Totalität der Wirkung ausgerichtet. So individualistisch dieser Ästhetizismus des Literaten auch immer blieb, er zielte unweigerlich auf Taten, auf massensuggestive Manipuliermacht ab.
Nationalist & Agitator
Zudem sah sich der gefeierte Kriegspoet und nationale Einpeitscher Italiens (hin zu einem neuen imperialistischen Heroismus) nach dem Weltkrieg als Privatmann erneut mit seiner wirtschaftlichen Misere konfrontiert: Er war so pleite wie 1915, als er, nach jahrelanger Flucht vor seinen Gläubigern nach Frankreich, gleichsam als zurückgemeldeter Agitator aus nationalem Interesse freies Geleit in Anspruch genommen hatte. Dem Bankrotteur D’Annunzio blieb, wollte er nicht wieder zum Landflüchtigen werden, keine Wahl, als seine hochpathetische Nationalheldenrolle weiterzuspielen.
Der Coup des allen Friedensverhandlungen zuwiderlaufenden Überfalls auf Fiume (Rijeka) sollte die Fortsetzung seiner wie ein Aphrodisiakum erlebten Kriegszeit wie die Sanierung seiner wirtschaftlich zerrütteten Verhältnisse mit sich bringen. Zu Hilfe kam ihm dabei die defätistische Stimmung unter der Zweidrittelmehrheit der italienischen Bevölkerung von Fiume, die im November 1918 durch ein Nationalkomitee den "Anschluss an das Mutterland Italien" gefordert hatte.
Mittlerweile unterstand die Stadt, nicht zuletzt wegen der irredentistischen Parole "Fiume Italiana", einem Alliiertenkommando von Italienern, Franzosen, Amerikanern und Engländern. Als die früheren italienischen Besatzer auf Anordnung des alliierten Kommandos die Stadt bis zum 25. August 1919 zu räumen hatten, regte sich heftiger Widerstand unter Fiumes italienischer Bevölkerungsgruppe. Einige Offiziere des abgezogenen Regiments der Granatieri di Sardegna flehten den "Dichtersoldaten Italiens" um Hilfe an: "Wir haben geschworen: Entweder Fiume oder der Tod, und was macht Ihr für Fiume?"
Das war für D’Annunzio das Signal zum Aufbruch. In der Zeitung "Vedetta d’Italia" hatte er am 6. September 1919 den sardischen Grenadier-Leutnants geantwortet: "Ich für meinen Teil stehe für alles bereit." Die abgezogenen Granatieri hatten in Ronchi bei Monfalcone, Provinz Triest, Quartier bezogen. Die Einnahme von Fiume sollte am 11. September 1919 beginnen, an einem für den Aktionisten D’Annunzio symbolträchtigen Datum: Genau neunzehn Monate zuvor, am 11. Februar 1918, hatte er bei einem ("Bluff von Bucari" genannten) nächtlichen U-Boot-Überfall auf spektakuläre Weise die österreichische Kriegsmarine gefoppt: Er drang 150 Seemeilen in feindliches Gewässer ein und hinterließ seinen drei U-Booten im Hafen von Buccari eine Flaschenpost mit höhnischer Botschaft an den Feind - Kriegsaktionismus nach D’Annunzios Manier, selbstbezogen, spektakulär und demagogisch wohlkalkuliert.
Nun also Fiume. "Die ersten Rufe nach der Annexion Fiumes (. . .) kamen aus dem Lager der Futuristen, denen sich die ‚Arditi‘, Soldaten der ehemaligen Sturmtruppen, anschlossen", schreibt dazu die Südtiroler Historikerin Denise Cles. "Beiden Gruppen war die Nationalitätenpolitik fremd geblieben. Sie reklamierten gemeinsam Fiume und Dalmatien. Mussolini, der D’Annunzio kurz zuvor kennengelernt hatte, bestätigte dem Dichter in einem Brief vom Januar 1919, dass der Sieg nicht verstümmelt werden dürfe, dass den Saboteuren des Kriegs der Weg zu versperren sei und dass man auf dem Boden des Sieges eine tiefgreifende Erneuerung des nationalen Lebens in Angriff nehmen müsse."
D’Annunzios Empörung richtete sich vor allem gegen den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der in Versailles die italienischen Gebietsansprüche an der Adriaküste (in einem Geheimdokument am 26. April 1916 in London festgelegt) mit dem Argument nicht anerkannt hatte, die Grenzen Europas sollten nach Nationalitäten gezogen werden. Zwar war Fiume mehrheitlich italienisch bevölkert, doch das Hinterland war slowenisch. Zudem war die reiche, von Italienern, Kroaten, Ungarn und Deutschsprachigen bevölkerte Hafenstadt Fiume niemals Teil der italienischen Gebietsansprüche gewesen und auch nicht im Londoner Abkommen erwähnt worden.
Triumphzug nach Fiume
Doch D’Annunzio bereitete am Abend des 10. September 1919 unter der begeistert akklamierten Parole "Fiume oder der Tod" seinen persönlichen Überlebens-Aktionismus vor. Vorerst freilich hinderte ihn ein profaner Umstand am Triumphzug nach Fiume: Es fehlten die benötigten Lastwagen. Am nächsten Morgen standen dreißig davon da: Sie waren in der Umgebung gestohlen worden.
Von Ronchi aus setzte sich die Heersäule mit Autos, Lastwagen, Panzern und 287 Bewaffneten in Bewegung. Unterwegs sangen die "Arditi" ("die Gehärteten"), D’Annunzios anarchistische Spezialtruppe, ihr berühmtes Lied "Giovinezza", die künftige faschistische Hymne. Insgesamt bildeten schließlich gut zweitausend Mann die Kolonne, an deren Spitze der Oberstleutnant der Reserve D’Annunzio fuhr - in einem himbeerroten nagelneuen Fiat, theatralisch wie bei einem Maskenumzug.
Und wie ein Faschingszug fuhr die Kolonne in Fiume ein, frenetisch begrüßt von den Italienern der Stadt: "Viva D’Annunzio! Viva Fiume Italiana! Ihr seid unser Duce!" Noch am selben Tag wird dieser "Duce" D’Annunzio zum Gouverneur von Fiume ernannt. Seine erste Ansprache vom Balkon des Regierungspalasts zeigt die Selbststilisierung zum neuen Messias: "Hier bin ich, ecco Homo. Ich bin gekommen, um euch meine Person zu schenken. Ich bitte nur um das Recht, Bürger dieser Stadt des Lebens zu sein. In dieser verrückten und feigen Welt ist Fiume heute das Zeichen der Freiheit."
Tatsächlich wurde Fiume für gut ein Jahr zu einem anarchischen, freizügigen Capua des Hedonismus, zu einer Stadt im permanenten Carnevale, zum Tummelplatz der Massenekstasen, freien Liebe, Drogen- und Alkoholexzesse, der Manifestationen und feierlichen Inszenierungen. D’Annunzio, das selbststilisierte Idol, war Statthalter, Regisseur, Hauptdarsteller und Choreograph der Massen. Er warf sich in die Posen des Märtyrers und des Tyrannen, erließ eine Flut von Proklamationen und unterwarf die Menge einem rhetorischen Bombardement: In aggressiven Schreiorgien, in fiebrigen Lyrismen war immer wiederkehrend die Rede von (nur scheinbar paradox) "Fiume, der Stadt des Lebens, der Stadt des Holocausts", sowie vom metaphorischen Dauerbrenner der "Flamme", die zugleich leuchtet und sich verzehrt, und vom mystisch beschworenen "Delirium".
Fiume wurde zur großen Schauspielbühne, auf der D’Annunzio mit den heftigen Paroxysmen eines monomanen Heldendarstellers seine Vorstellung von Politik und Führertum inszenierte und nur die Probe abhielt für die weit abgründigeren Ästhetisierungen von Massenaufmärschen und choreographierten Großkundgebungen einer führerorientierten Politik im 20. Jahrhundert. Die Ritualisierung einprägsamer Zeichen und Symbole, die geometrische Anordnung der Versammlungen als "Ornament der Masse" (Siegfried Kracauer), die Scheinaktivierung der Masse als Aufputschdroge gegen die lethargische Verlorenheit oder depressive Apathie des Einzelnen - diese Bemächtigung der Menge als Manipulationsmasse der Politik führte der Zauberlehrling D’Annunzio in Fiume den kommenden Hexenmeistern der Massenverführung vor.
Symbole & Totenkult
Mit schallender Stimme, ohne Mikrophon, hielt der Commandante vom Balkon des Gouverneurspalasts herab die Fiumaner in Bann. Den Faschistenruf "Eia, Eia, Ailalá", angeblich der antiken Mythologie entlehnt, skandierte er da zum ersten Mal. Die demagogischen Fragen "Wem gehört Fiume? Wem die Kraft? Wem Italien?" beantwortete die Menge mit ihrem frenetischen "Uns!" Die Fez-Mützen der Soldaten, das Fahnensymbol des Adlers mit weitgespannten Flügeln, den römischen Fasci entnommen: all diese Symbolrequisiten aus D’Annunzios Fiumaner Inszenierung kehrten dann im Faschismus wieder.
Ende 1920 drohte dem politischen Husarenstück der Untergang. Zwar hatte D’Annunzio die Stadt noch zum Freistaat erklärt, mit einer Verfassung aus syndikalistischen, faschistischen und revolutionären Elementen. Doch nach dem Vertrag von Rapallo im November 1920 drängte Italiens Regierung auf Entsatz der mittlerweile von Raub, Mord, Vergewaltigung und bürgerkriegerischen Übergriffen erschütterten Festung. D’Annunzio schlug alle Ultimaten in den Wind, hoffte vergeblich auf Hilfe von Mussolini, behielt starrköpfig die Stadt und seine Arditi als Geiseln für sein politisches Experiment. Am 26. Dezember 1920 beschoss das Schlachtschiff "Andrea Doria" mit Kanonen den Regierungspalast. Ein Grenadier starb neben D’Annunzio, er selbst wurde weggetragen, wollte nicht mehr kämpfen. "Fiume oder der Tod" galt für ihn nicht mehr, nur die Fiumaner hielten noch aus.
Am 31. Dezember war der Spuk zu Ende, D’Annunzio erklärte sich mit dem Rücktritt einverstanden. Vor der Abreise nach Venedig hielt er seine letzte Rede vor den Särgen der Gefallenen: "Wir werfen heute Nacht den Trauerruf ‚Ailalà‘ über die ermordete Stadt." Die Wortwahl ist typisch für seine - Egomanie und Totenkult antagonistisch aufeinander beziehende - Ästhetik: Was ihm nicht mehr zu Diensten war, wurde für gänzlich tot erklärt.
Mussolini hatte sich die Verquickung von Personenkult, Größenwahn und Manipulation der Massen bei D’Annunzio genau abgeschaut. 1922 inszenierte der Duce den "Marsch auf Rom". Dem Dichter spendierte er noch zu Lebzeiten ein Mausoleum am Gardasee, wo sich D’Annunzio, fürstlich alimentiert, fortan jeglicher öffentlichen Aktion zu enthalten hatte.
Oliver vom Hove, in Großbritannien geboren, aufgewachsen in der Schweiz und in Tirol. Lebt als Dramaturg, Literaturwissenschafter und Publizist in Wien.