Bei der Verteilung von Flüchtlingen in der EU sind die Staaten von Einigkeit weit entfernt. Beim Grenzschutz nicht.
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Brüssel. Das Wort ist wieder in aller Munde. Einmal mehr wird in der EU-Debatte um den Umgang mit Flüchtlingen "Solidarität" beschworen. Deren Interpretationen gehen freilich auseinander - und auch das war schon früher der Fall. Bevor sich die Mitgliedstaaten vor einem Jahr nach mühevollem Ringen auf die Verteilung von bis zu 160.000 Schutzsuchenden von Italien und Griechenland aus geeinigt hatten, gab es für die Osteuropäer Schelte wegen "mangelnder Solidarität". Länder wie Ungarn, Polen und Tschechien sprachen sich nämlich strikt gegen eine verpflichtende EU-Quote zur Umsiedlung von Flüchtlingen aus. Zwar waren auch andere Mitglieder - wie Frankreich - gegen einen fixen Verteilungsschlüssel, doch brachten sie ihren Protest nicht so lautstark zum Ausdruck. Und sie beteiligten sich später an der Umsetzung eines Mehrheitsbeschlusses zur freiwilligen Aufnahme von Schutzsuchenden. Eines Beschlusses, gegen den Ungarn und Tschechien vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt haben.
Ausgerechnet diese zwei Staaten bringen, zusammen mit Polen und der Slowakei, den Begriff "Solidarität" erneut in die Diskussion ein. Allerdings haben die vier Länder, die zusammen die Visegrad-Gruppe bilden, ein eigenes Konzept dafür entwickelt. Die Migrationspolitik der Gemeinschaft sollte auf dem Prinzip der "flexiblen Solidarität" beruhen, legen die vier Regierungen in einem Papier dar, das sie in der Vorwoche bei einem Gipfeltreffen in Bratislava präsentiert hatten. Der Gedanke dahinter ist, dass es den Ländern freistehen sollte, über ihre Beiträge zur Lösung der Flüchtlingskrise selbst zu entscheiden - je nach ihren "Erfahrungen und Fähigkeiten". So könnte ein Staat mehr Personal zum Schutz der EU-Außengrenzen entsenden oder Mittel für die Versorgung von Flüchtlingen im Libanon und in Jordanien zur Verfügung stellen, statt selbst Menschen aufzunehmen.
Ungarn im Alleingang
Am deutlichsten zeigt dabei Budapest seine Position auf. Premier Viktor Orban betont, dass seine Landsleute selbst darüber bestimmen wollen, mit wem sie zusammenleben und ihnen das von der EU nicht aufgezwungen werden dürfe. Um dies zu bestätigen, hat er sogar ein Referendum zu dem Thema angesetzt, das in einer Woche stattfindet.
Ungarn, als ein Land auf der Balkan-Route von den Flüchtlingsbewegungen weit mehr betroffen als Polen oder Tschechien, hat von Anfang an mehr auf Abwehr denn auf Aufnahme gesetzt. In den Bau von Zäunen und Absperrungen an der Grenze zu Serbien hat es nach Angaben aus Budapest mehr als 250 Millionen Euro fließen lassen. Finanzhilfe aus der EU habe es dafür keine gegeben.
Überhaupt sei die Union mit dem Versuch, gemeinsam die Flüchtlingskrise zu lösen, gescheitert. Die Staaten hätten die Lage selbst meistern müssen - entweder allein oder in regionaler Kooperation. Das zeigte sich nach der Schließung der Balkan-Route, als Länder wie Ungarn, Österreich, Mazedonien oder Serbien zusammenarbeiteten. Dass Österreich ein Nutznießer des verstärkten Grenzschutzes im benachbarten Ungarn sei, räumt auch Bundeskanzler Christian Kern ein. Für Deutschland würde das seine Amtskollegin Angela Merkel wohl nicht offen sagen, aber auch dort hat sich die Debatte Richtung Kontrolle und Begrenzung der Zuwanderung verschoben.
Aus ungarischer Sicht ist dies zu wenig. Ziel müsse sein, illegale Migration zu stoppen. "Niemand soll die EU-Grenze überschreiten, ohne identifiziert zu werden", erklärte Regierungssprecher Zoltan Kovacs vor kurzem bei einem Pressegespräch in Brüssel. Daher sollte die Union den Schwerpunkt auf die Sicherung ihres Territoriums legen und nicht auf Verteilungsquoten, die laut Kovacs auf einer "erzwungenen und fehlgeleiteten Solidarität" basieren. Für diese Fehler werde Ungarn jedenfalls nicht die Verantwortung tragen und keine Flüchtlinge zurücknehmen, die im Vorjahr nach Westeuropa weitergereist sind.
Das wird in Wien schon weniger begrüßt: Wie Deutschland möchte Österreich Menschen ohne Anspruch auf Asyl nach Ungarn zurückschicken.
Dennoch stößt die Forderung nach "flexibler Solidarität" keineswegs auf taube Ohren. In Bratislava sprach Kanzlerin Merkel von einem "positiven Ansatz". Wenige Tage zuvor gab EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu, dass Solidarität nicht zu erzwingen sei, sondern "von Herzen kommen" müsse.
Bedeutet dies, dass die Idee einer Quote zur Flüchtlingsverteilung auch offiziell als gescheitert angesehen wird? Immerhin sind im Rahmen des Umsiedlungsprogramms, das ursprünglich 160.000 Menschen umfassen sollte, erst etwas mehr als 4100 Asylwerber von Griechenland aus und an die 1150 Schutzsuchende aus Italien in andere EU-Staaten gebracht worden. Nein, die Umverteilung werde nicht gestoppt, heißt es in Berlin und Brüssel.
Sicherheit statt Quoten
Doch hinter den Kulissen werden sehr wohl die Bewegungsspielräume der Partner ausgelotet. Juncker sekundiert, indem er von einer Migrationspolitik spricht, die alle Staaten mittragen können. Wird es einen neuen Anlauf zur Fixierung einer Verteilungsquote geben? Daran glauben Experten allerdings nicht. "Ein neuer Mechanismus wird nicht vorgeschlagen", meint Yves Pascouau von der Brüsseler Denkfabrik EPC (European Policy Centre). Überhaupt sei die EU von einer gemeinsamen Einwanderungspolitik noch weit entfernt. Aber in einem Punkt seien sich die Staaten einig: Die Grenzen der Union müssen besser geschützt werden. Pascouau verweist auf die Erklärung von Bratislava: "Es hat dort einen einzigen Konsens gegeben - zu den Themen Grenzmanagement und Sicherheit." In den anderen Bereichen seien die Differenzen noch groß.