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Hommagen an Lieblingstiere, leidenschaftliche Forschungsberichte - und schräge Annäherungen an Welt und Umwelt: Die Buchreihe "Naturkunden" aus dem Verlag Matthes & Seitz setzt Maßstäbe.
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Sommerzeit ist Urlaubszeit und beides bringt meist eine Intensivierung der Naturkontakte bei diversen Outdoor-Aktivitäten - ein idealer Zeitpunkt, ein Projekt zu entdecken, das im Übrigen an verregneten Sommertagen ebenso helfen kann wie bei der Suche nach einer besonderen Geschenkidee: Es geht um die von Judith Schalansky betreute Reihe "Naturkunden", die seit 2013 im Berliner Verlag Matthes & Seitz erscheint, zu dem sie sehr gut passt, immerhin ist das Verlagslogo ein hübscher kleiner Lurch.
Schalansky bewies bereits mit ihrem "Atlas der abgelegenen Inseln" (2009) ein besonderes Talent zu literarischer Weltbeschreibung und ästhetischer Buchgestaltung. Sie ist gelernte Kunsthistorikerin und unterrichtet in Potsdam Typografische Gestaltung. Ihr Romandebüt "Blau steht dir nicht" (2006) war eine Art Apotheose des Fernwehs, während die Hauptfigur ihres zweiten Romans, "Der Hals der Giraffe" (2011), Biologielehrerin an einem Gymnasium ist, das nach Charles Darwin benannt ist, gegen dessen neoliberale Indienstnahme unter sozialdarwinistischem Banner das Buch anschreibt.
Edle Ausstattung
Schon der Start der "Naturkunden" 2013 mit gleich acht Bänden zeigte die breite Ausrichtung des Projekts. Platz finden hier Neuauflagen klassischer Texte wie Henry David Thoreaus "Lob der Wildnis", die Apfelenzyklopädie des bayrischen Pfarrers Korbi-
nian Aigner oder "Die Berge Kaliforniens" von John Muir, dem 1914 verstorbenen "Vater" der amerikanischen Nationalparks, mit Fotos von Eadweard Muy-bridge. Ein anderer Schwerpunkt sind Portraits von Tierarten und Lebensräumen, verfasst von sachkundigen Liebhabern oder ausgewiesenen Experten wie Cord Riechelmann, Sachverständiger für das Phänomen tierischer Kulturfolger, der im ersten Band der Reihe "Krähen" als klassische Tiere in städtischen Biotopen präsentierte.
Allen Bänden gemeinsam ist die sorgfältige Ausstattung. Man findet geprägte Buchdeckel, deren Farbton sich in Kopfband, Kopfschnitt oder Lesebändchen des Buches genauso wiederholen kann wie jener der Vorsatzblätter, die oft einen überraschenden farblichen Kontrast setzen. Alle Bücher sind fadengeheftet, gebunden, mit einem vom Thema vorgegebenen Frontispiz, dazu reich und erlesen bebildert - mitunter abgetönt im Farbton des Buchschnitts, ohne dass das geschmäcklerisch wirken würde.
Auch das Format ergibt sich wie alle anderen Elemente der Buchgestaltung aus Umfang und Inhalt: nicht die Reihenlogik steht im Vordergrund, sondern die Frage, was dem jeweiligen Band adäquat zum Inhaltsgesicht steht. Hält man eines dieser Buchindividuen in der Hand, wird einem erst bewusst, was beim heute gängigen Durchschnittsbuch an ästhetischen Verlusten der Buchkultur zu beklagen ist.
So unterschiedlich wie die Themen sind die Herangehensweisen; es sind Hommagen an Lieblingstiere, leidenschaftliche Forschungsberichte oder schräge Annäherungen an Welt und Umwelt. Eine solche bringen etwa die "Naturkunden" Nummer 21 mit Roger Deakins "Logbuch eines Schwimmers". Der britische Journalist und Filmemacher beschloss eines Tages, im Wassergraben vor seinem Haus in Suffolk schwimmend, sich eine maximale Zahl an Fluss- und Küstenkilometern zu erschwimmen, beginnend am südlichsten Zipfel von Cornwall. Dabei beobachtete er die Natur wie das Verhalten der Menschen - jener, die dort leben, jener, die seine Schwimmbegeisterung teilen, und jener, die das wilde Schwimmen in Naturgewässern mit Misstrauen beäugen.
Die beigegebenen Lithographien von Pauline Altmann zeigen inspirierende Emanationen bewegter Wasseroberflächen - für den mit der britischen Topografie nicht so vertrauten Teil der Leserschaft wären hier Landkarten nützlich gewesen. Freilich geht es Deakin nicht nur um eine Beschreibung realer Flussbiotope, sondern um eine Art Sozialgeschichte der Schwimmkultur. Während die 1920er Jahre die Blütezeit der Freibäder brachten, wurden diese in den 1970er Jahren reihenweise "zubetoniert oder in Parkplätze umfunktioniert".
Freiluftschwimmen
Deakin legte seine Wasserreisen übrigens brustschwimmend zurück, ohne Pulszähler oder Stoppuhr. Er absolvierte keine Trainingseinheiten, sondern beo-bachtet schwimmend - aufgrund der klimatischen Verhältnisse allerdings mitunter im Neoprenanzug - Flora wie Fauna und versteht sein 1999 im Original erschienenes Buch auch als Plädoyer für das Freiluftschwimmen und als Aufruf an die Politik, das Recht auf freien Zugang zu Gewässern zu garantieren.
Bewegungstechnisch konventioneller, nämlich wandernd, machte sich der Literaturwissenschaftler Robert Macfarlane in Band 25 der Reihe ebenfalls quer durch Großbritannien auf die Suche nach "Alten Wegen" - mit Abstechern nach Palästina, Spanien und Tibet, wobei auch das Ergebnis irgendwie konventioneller wirkt, vielleicht weil hier allzu nah am nur persönlichen Erleben entlang geschrieben wird.
Überaus anregend ist hingegen der Folgeband des amerikanischen Biologen Thor Hanson über "Federn. Ein Wunderwerk der Natur", der mit dem Fund des ersten "in Stein geschriebenen Urzeitflügels", dem Archaeopteryx lithographica, in den Kalkgruben rund um Solnhofen im Jahr 1861 beginnt. Auch Hanson baut die 15 Kapitel des Buches in angloamerikanischer Manier stets rund um erzählte Erlebnisse auf, aber hier ist die Abmischung mit dichter Information stimmig. Man erfährt, wie Federn wachsen, warum Vögel mausern, was Flugzeuge vom Rotkardinal gelernt haben oder dass die am höchsten versicherten Kisten an Bord der "Titani"c Federn für die New Yorker Hutmacherläden enthielten. Und natürlich ist ein Abschnitt auch der Vogelfeder als zentralem Element der Geschichte der Schreibkultur gewidmet, die man sich aus Sicht von Gänsen, Raben und sonstigen Großvögeln mit kräftigen Deckfedern deutlich unrühmlicher vorstellen muss, als es hier beschrieben wird.
Des Esels Ohren
Ein Beispiel für ein Tiere-Portrait mit primär kulturhistorischer Annäherung ist Jutta Persons "Esel". Freilich gibt es auch hier jede Menge Information über Abstammungsgeschichte, Klassifizierung und biologische Besonderheiten, zentral aber ist der Blick des Menschen auf den Esel, und das hat gute Gründe. Kaum ein Tier hat so wechselhafte Zuschreibungen widersprüchlicher Charakterzügen erhalten wie der Esel - und immer neigen sie zum Extrem.
Dem guten Image in der Antike, die mit seiner Virilität noch kein Problem hatte, folgte die Überbetonung seiner stoischen Gleichmut im Joch des Mühlrads, aber auch seines Starrsinns, ein Bild, das die Aufwertung im Neuen Testament als geduldiger Träger des Herrn nicht nachhaltig korrigierte.
Eine zentrale Rolle erhielt der Esel durch seine Verbindung mit dem Pferd zu Maultier oder Muli im Streit der Entstehung der Arten. Ganz praktisch gesehen beginnen die Irritationen oft schon bei seinen Ohren: Sie sind zu groß, asymmetrisch, können sich propellerartig drehen und verleihen dem Esel seinen Charakterkopf. Was auch bei Person nicht geklärt wird, ist die Frage, wie dieses Ohr ins Buch kam; es wurde wohl nicht erfunden, sondern ist einfach entstanden, jedenfalls vermerkt schon das Grimm’sche Wörterbuch von 1862 dazu: "merkzeichen im gelesenen buch durch einbiegen einer blattecke".
Nach dem Esel brachten die "Naturkunden" bisher eine Reihe weiterer Portrait-Bände, sei es zu Schwein, Eule, Hering oder als Nummer 23 die "Schmetter-
linge". Andrea Grill, Schriftstellerin und Biologin, genauer Lepidopterologin, erzählt in diesem handlichen Band in zart maseriertem Weinrot, wie sie zu ihrer Forschungsleidenschaft kam, was sie dabei genau tut, und weshalb Schmetterlinge nicht nur hübsch, sondern auch lernfähig sind.
Wir erfahren viel über Schmetterlinge und den Alltag einer Schmetterlingsforscherin, die "das Privatleben von Tieren" studiert, "die theoretisch jeder sehen kann, praktisch aber kaum jemand beachtet". Seit 15 Jahren beschäftigt sich Andrea Grill mit dem Maniola jurtina, dem Ochsenauge. Bei der Feldforschung geht es erstaunlich pragmatisch zu. Wochenlang werden in einem bestimmten Stück Natur alle herumgaukelnden Exemplare per Netz gefangen, am Flügel nummeriert und wieder frei gelassen - erstaunlich, aber das geht offenbar. Aus den protokollierten Einträgen lässt sich dann ein Annäherungswert über eine bestimmte Population errechnen.
Im Labor simulieren Klimaschränke die verschiedenen Bedingungen für Eiablage, Verpuppung und das Schlüpfen der Schmetterlinge und ermöglichen damit Erkenntnisse über den Lebensrhythmus der "fliegenden Blumen" bei unterschiedlichen Umweltbedingungen. Das alles ist leichtfüßig geschrieben und thematisiert doch immer wieder zentrale Fragen im Verhältnis Tier-Mensch, die bei aller Begeisterung für die Materie nie aus dem Blick geraten.
Ein Bestiarium
Eine ganze Sammlung von Por-traits bieten die "Naturkunden" Nummer 15 mit dem Titel "Wahre Monster". Dieses "unglaubliche Bestiarium" des britischen Wissenschaftsjournalisten Caspar Henderson versammelt 27 besondere Tiere, vom Axolotl aus der Familie der Schwanzlurche bis zum Zebrabärbling, einem Karpfenfisch, der mittlerweile für Aquarienliebhaber gentechnisch verändert in Neonfarben angeboten wird. Doch daraus entsteht keine Kuriositätenshow, sondern ein Crashkurs durch die Evolutionsbiologie, die Entstehung der Arten und die Wissenschaftsgeschichte.
Henderson analysiert, was der Mensch von der Antike bis heute alles über verschiedene Lebewesen gedacht und welche Formen der Interaktion er ausgebildet hat. Dass viele der ausgewählten Tiere ihr Habitat in den Tiefen der Ozeane haben, schränkt direkte Begegnungsmöglichkeiten zwar stark ein, nicht jedoch die Auswirkungen der Existenz des Menschen für den Seeschmetterling mit seinem Körperdurchmesser von 2 Millimetern, den Plattwurm aus dem Kambrium oder den Venusgürtel aus der Familie der Rippenquallen, der aussieht wie ein transparentes Raumschiff. Im liebevoll und akribisch verortenden Blick Caspar Hendersons bekommen sie alle etwas Faszinierendes: von der Sternfleckenmuräne bis zum Honigdachs, vom Japanmakaken bis zum Menschen, der als Nummer acht zwischen Fangschreckenkrebs und Nesseltier abgehandelt wird.
Nicht weniger spannend als die Beschreibungen ist auch in diesem Band die Diversität der Abbildungen, die zum Teil historischen Werken entstammen, während die Portraits der 27 Akteure von Pauline Altmann und Judith Schalansky auf bezaubernde Art als Bewohner einer gemeinsamen Welt ins Bild gesetzt werden.