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Flipper vom Ganges

Von Martin Zinggl

Reflexionen

Die Suche nach den letzten Delfinen im westlichen Nepal gleicht einer Zeitreise an prähistorische Orte - mit einem sehr zeitgemäßen Naturschutz.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wild ist der Westen, auch in Nepal. Würde man nicht in einem allradbetriebenen Geländewagen sitzen und Bob Dylans Sandpapierstimme aus der Stereoanlage heulen hören, könnte man meinen, in einem Land vor unserer Zeit zu sein. Plattitüde? Im Gegenteil!

Draußen zieht das Saftgrün von Feldern in einem grenzenlosen Tal vorbei, vom Himmel nur getrennt durch die Ausläufer des Himalaya-Massivs, Bäche, die unberührt von Menschenhand ihren Weg vor sich hin plätschern, warmes Vorabendlicht, das weich einfällt. Landluft und der süßlich-beißende Duft von wild wuchernden Hanfplanzen vermischen sich im Fahrtwind. Und würde jetzt von irgendwo ein Dinosaurier oder ein Mammut durch das Bild laufen, wäre man auch nicht überrascht.

Zivilisationsspuren

Oft ist mir der Begriff "Zeitreise" in Verbindung mit Nepal untergekommen. Ist sie das nun, die Zeitreise? Schließlich folgen zarte Spuren der Zivilisation: Nackte Kinder planschen in natürlichen Pools, Frauen in safranroten Saris säen Reis auf den bestellten Feldern; Landhäuser, Strommasten, Zementfabriken. Wild ist und bleibt der Westen dennoch - und Ausländer verirren sich nur selten hierher, denn laut "Lonely Planet" gibt es im Westen Nepals keine der 15 "top experiences".

Stunden später bricht völlige Dunkelheit über uns herein, während der Monsun kontinuierlich auf uns niederprasselt. Auf der Fahrbahn erhellt ein brennender Autoreifen die Felsen, die ihn umgeben. Unser Wagen bleibt stehen und wird sofort von einem aufgebrachten Mob umgeben, der mit Taschenlampen in das Innere unserer Zeitmaschine leuchtet. "Banda", höre ich sie rufen, Steine und Eisenstangen in den Händen haltend. "Gesperrt", sagt Fahrer Bijay. Keiner der Anwesenden ist ein Newar, er hingegen schon.

Wir sind im Land der Tharus. "Ist das ein Problem?", frage ich ihn. "Nur wenn sie betrunken sind", sagt Bijay und steigt selbstbewusst aus dem Wagen, um mit unseren potenziellen Peinigern zu sprechen. "Wenn es darum geht, eine Brücke oder eine Schule zu bauen, rührt niemand von euch auch nur einen Finger", sagt er in akzentfreiem Tharu. "Aber wenn es darum geht, gegen die Regierung zu demonstrieren, kommt ihr mit den größten Steinen, die ihr finden könnt, um die Straße zu blockieren!" Lallende Laute, eine Bierflasche zerbricht auf dem Asphalt. Sie sind betrunken. Bijay wird gestupst und bedrängt, die Situation scheint zu eskalieren und ich bin aufs Äußerste vorbereitet: gewaltsam aus dem Auto gezerrt und verdroschen zu werden, bevor ich zusehen darf, wie sie unsere Vehikel anzünden.

"Seid ihr nicht mit uns, seid ihr mit der Regierung", lautet die Devise. Dann erkennt einer der Störenfriede Bijay. "Bist du nicht der Sohn vom ,Steinschleuder-Opa‘"? Bijay nickt und die Gemüter beruhigen sich. Er steigt wieder ein und wir fahren eilig an der Straßensperre vorbei. "TIN", sagt Bijay genervt, "This Is Nepal".

Aufstand

Als wir durch die Zeit gereist sind, hat sich halb Nepal kurzfristig in eine Anarchie verwandelt. Der Grund? Nach achtjähriger Wartezeit hat die Regierung den Entwurf einer neuen Konstitution verabschiedet, die vorsieht, das Land in sechs neue Distrikte zu teilen. Dadurch würden seit Generationen bereits unterdrückte Randgruppen, die zugleich den Großteil des südwestlichen Nepal, des Terai, ausmachen, aufgeteilt werden. Die Folge? Ein Aufstand der Unterdrückten, der sich in Straßensperren manifestiert.

Jedes Fahrzeug, das dem Gebot nicht Folge leistet, wird in Brand gesetzt. Bijay blickt fragend aus dem Fenster ins schwarze Nichts und murmelt: "Wo haben sie nur diese großen Felsen her?" Nepals Westen ist verflucht aufgrund der Folgen des zehnjährigen Guerillakrieges der Maoisten, die sich in Form unsichtbarer Narben in den Köpfen der Menschen finden - und darum meiden Touristen die Region.

Schließlich erreichen wir unsere Destination: Dhungala Tol, ein Marschland. Keine 200 Menschen bewohnen das Dorf, das am Ufer des Mohana-Flusses liegt, dazu noch einmal so viele Wasserbüffel und Kühe und jede Menge Moskitos. Die Gegend ist Malariagebiet, vor allem in der Regenzeit. Hütten aus Lehm, Stroh und Kuhdung, die gleiche Mischung dient in den kalten Monaten auch als Heizmate-
rial. Ein Ort aus einer anderen Zeit, wo Vergeltung noch groß geschrieben wird und sich Hase und Fuchs zwar nicht "Gute Nacht" sagen, aber Krähen aus Langeweile die herumstreunenden Hunde provozieren, indem sie ihnen im Flug nach dem Hinterkopf schnappen.

Warum "Lonely Planet" diesen Ort nicht als "off the beaten track"-Highlight auserkoren hat, ist mir schleierhaft. Der Grund unseres Besuchs könnte kaum absurder sein: Delfine! Klar, Elefanten und Bengalische Tiger, Nashörner und rote Pandas. Von mir aus auch Yetis. Aber "Flipper" im Himalayastaat, einem Binnenland? Es gibt sie wirklich, die seltenen Gangesdelfine, die im Distrikt Kailali "susu" heißen. Weniger als fünfzig Individuen sollen es sein, aber so genau weiß das niemand. Nepals susus sind auf der Roten Liste gefährdeter Tierarten ganz weit oben zu finden. Den Großteil der geschätzten 1000 bis 3000 Gangesdelfine findet man heute noch in Indien und Bangladesch.

Steinschleuder-Opa

Während des Monsuns, wenn die Wasserstände der Ganges-Zulieferflüsse Mohana und Karnali ihre Höchststände erreichen, wandern die Delfine über das Flusssystem aus dem benachbarten Indien, das nur einen Steinwurf entfernt liegt, auf die nepalesische Seite. Sie tummeln sich vergnügt, wenngleich versteckt im Schlammwasser. Und wenn es eine Person gibt, die weiß, wann und wo ein Delfin im vergangenen Jahrzehnt seine langgezogene Schnauze aus der Flusslandschaft Kailalis gehoben hat, dann ist das Bijay.

Bijays Vater, Bhoj Raj Shrestha, ist genauso legendär wie seine Geschichte. Einst ein Fischer und Jäger erster Klasse, wollte Papa Shrestha vor über dreißig Jahren in Begleitung eines amerikanischen Besuchers einen großen Fisch schießen. Als ihn der Begleiter darauf aufmerksam machte, dass das kein Fisch, sondern ein Delfin war - und noch dazu ein sehr seltener, legte Papa Shrestha die Steinschleuder weg. Sein Weltbild drehte sich um 180 Grad und er verwandelte sich in einen Vorzeige-Umweltschützer und Delfin-Verteidiger. Um auf lokaler Ebene das Bewusstsein für die aussterbende Spezies zu schärfen und das seltene Tier zu schützen, gründete er das Dolphin Conservation Centre.

Er sammelte tausende Steinschleudern ein, mit denen vorwiegend auf Vögel und Delfine gezielt wurde, und verdiente sich damit den Beinamen Guleli Baje, "Steinschleuder-Opa". Das rettete nicht nur unzähligen Tieren das Leben, sondern Bhoj Raj Shresta brachte seine Botschaft auch an die Leute: "Umweltschutz beginnt im eigenen Heim." Ausgezeichnet mit nationalen Preisen und internationaler Anerkennung, ist der Steinschleuder-Opa auch mit 81 Jahren noch immer im Umweltschutz aktiv, wenn auch in geringerem Maße. Seinem mittlerweile 50-jährigen Sohn Bijay blieb wenig anderes übrig, als in die vielleicht zu großen Fußstapfen des Vaters zu treten.

In den vergangenen Dekaden konnten die Shresthas bereits diverse Gefahren für den raren Flussdelfin beseitigen: illegalen Landraub, Überfischung durch giftige Pestizide und die Verschmutzung des Flusssystems. All das mit Hilfe der lokalen Bewohner, denn sie sind die Armee der Shrestas. Auf rund 60.000 Unterstützer können sie in der Flusslandschaft Kailalis zählen. Das Credo lautet: community based approach, wobei die Shresthas die Brücke zwischen Lokalbevölkerung und Autoritäten sind.

Aber die Gefahren für Nepals Flipper bestehen weiter, denn der unaufhaltbare Konsumwahn des Menschen verlangt nach mehr Energie. Darum baut Indien flussaufwärts des Mohana-Flusses Dämme, um die Bewohner der Megacities Delhi und Mumbai mit Strom zu versorgen. Dass dadurch der ohnehin bereits minimierte Lebensraum der Delfine zerstört wird, indem Land erodiert, Wasserpegel sinken und Giftstoffe in das Flusssystem gelangen, wird ignoriert. Sowohl finanziell als auch auf politischer Ebene ist das Dolphin Conservation Centre auf sich alleine gestellt.

"Neben dem Menschen zählt der Delfin zu den intelligentesten Säugetieren", sagte Papa Shresta. Die Tatsache, dass nicht Delfine den Menschen Lebensraum stehlen oder Gift in unser Essen tun, wirft freilich die Frage auf, ob wir tatsächlich so viel intelligenter sind . . . Der nepalesischen Regierung muss man jedenfalls mangelnden Willen bescheinigen - nicht nur aus Routine, da niemand den Mut oder die Macht hat, Entscheidungen zu fällen, sondern auch, weil sie damit beschäftigt ist, Pläne zu schmieden, das Land neu aufzuteilen und sich den Unmut der Bevölkerung zuzuziehen.

Wenn die Shrestas nicht gerade Delfine aufspüren, engagieren sie sich als Advokaten für diese und andere bedrohte Tierspezies. Umweltschutz ist ihr Leben. Sohn Bijay hat die Erscheinung und die Umgangsformen eines Universitätsprofessors, wenngleich er nie eine Uni von innen gesehen hat: überhöflich, korrekt, äußerst zuvorkommend und immer mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Man kann ihn sich in einem zweireihigen Anzug mit glanzpolierten Schuhen vorstellen, doch als wir in das hölzerne Ruderboot steigen, das von einer dünnen Schlammschicht überzogen ist, sieht er aus wie ein Hippie: ausgelatschte Sandalen, zerschlissene Shorts und ein ausgewaschenes Unterleibchen, worüber er eine orangene Schwimmweste stülpt.

Da das Boot leckt, schöpft ein kleiner Bub aus dem Dorf ständig Wasser aus dem Boden. Mit Schwung stößt der Gondoliere vom abrupt abfallenden, hüfttiefen Schlammufer ab und wir gleiten durch die milchteebraune Suppe. Als wir völlig benommen von der schwülen Hitze flussabwärts und dann wieder -aufwärts gondeln und nach den seltenen Tieren Ausschau halten, sticht uns ein bösartiger Geruch in die Nase - und bald darauf sehen wir des Rätsels Lösung: ein Kuhkadaver driftet an der Oberfläche vorbei. Darauf sitzen einige Krähen und zupfen aufgeweichte Fleischstücke aus dem leblosen Körper. Einer der Gründe, nicht ins Wasser zu gehen. Ein weiterer folgt sogleich: die Morgentoilette mehrerer Dorfbewohner. Noch ehe ich etwas sagen kann, schwimmt Bijay bereits zu einer Sandbank, wo er seinen Körper mit Schlick einreibt. "Safari und Kur in einem", ruft er mir zu, "komm!"

Ich schüttle lächelnd den Kopf. Nichts liegt an diesem Ort ferner als Safari und Kur. In Schlamm-Camouflage passt Bijay makellos in die Landschaft, bevor er in den trüben Sumpf untertaucht. Das Habitat des seltenen Flussdelfins ist eindeutig auch jenes von Bijay, der sich im Wasser pudelwohl fühlt und wie ein Kleinkind plantscht - auch um die susus aufzuscheuchen, die sich bisher nur sehr spärlich gezeigt haben.

Und tatsächlich: Für eine Sekunde tauchen sie auf, schnauben Wasser und verschwinden wieder. Mit Schlammresten in Ohren, Augenbrauen sowie zwischen den Zähnen lehnt sich Bijay vom Wasser her mit seinen Ellenbögen ins Boot. Gespannt schaut er mir ins Gesicht und wartet auf eine Antwort, als er mich fragt: "Wie fühlst du dich nun, nachdem du die ersten Delfine gesehen hast?"

Ich bin ratlos, weiß es ehrlich nicht. Was antwortet man in so einem Fall gegenüber einem Umweltschutz-Advokaten, der seit Jahren nichts anderes macht, als Delfin-Buckel an der Wasseroberfläche zu beobachten? Klar, sein unbrechbares Engagement beeindruckt mich, aber die Delfin-Buckel alleine . . . "Ganz toll!", stammle ich. Bijay nimmt es gelassen und lässt seine Stimmung dadurch nicht trüben. Insgesamt sehen wir an diesem Tag acht verschiedene Delfinbuckel. Zweimal schaffe ich es sogar, ein Delfingesicht zu erkennen, bevor wir uns dem Abendprogramm widmen.

Auf grünen Plastikstühlen sitzen die Dorfbewohner und diskutieren über die fragwürdige Zukunft des Ganges-Flippers, während im Hintergrund das Schnauben auftauchender Delfine zu hören ist. Die Menschen aus Dhungala Tol besitzen fast nichts - und doch teilen sie alles. Das ist keine weitere Plattitüde, denn selten hat das dermaßen zugetroffen. Hier leben Familien von weniger als einem Euro pro Tag. Und dennoch wird alles getan, damit ich mich wohl fühle. "Der Gast ist Gott", sagt ein altes nepalesisches Sprichwort. Und so wird mir das einzige Bett mit Moskitonetz zugesprochen, Trinkwasser für mich abgekocht, und um den passenden Alkohol für den Gast zu finden, marschiert ein Bursche drei geschlagene Stunden in die eine und drei Stunden in die andere Richtung. Egal, welcher Fusel mir beim Abendmahl serviert wird, ich habe keine andere Wahl, als ihn zu genießen. Wenn mich nicht irgendwelche Parasiten von innen zerfressen, dann ist es die Moral.

Wasser mit Schnaps

In einem 5-Liter-Kanister wird serviert, worauf alle schon sehnsüchtig warten: selbstgebrannter Zuckerrohrschnaps. Der geht runter wie Öl, schmeckt süß und sorgt bereits nach wenigen Schlucken für Schlagseite. Also, Prost! Während der Ansprachen trinken wir Wasser mit Schnaps, mit dem Essen dann Schnaps mit Wasser und schließlich nur mehr Schnaps. Die Anwesenden stimmen Delfinlieder an, wovon die meisten erst beim Absingen gedichtet werden . . .

Während ich versuche, in dieser klaren Nacht die Glühwürmchen von den Sternen zu unterscheiden, beginnt der Zuckerrohrschnaps in mir zu wirken. Mit den zirpenden Grillen und den enthusiastischen Gesängen meiner noch viel enthusiastischeren Kollegen spüre ich plötzlich Sentimentalität in mir aufsteigen - und meine sie zu verstehen: Die auftauchenden Delfinrücken gehören zu einem prähistorischen Tier, das es in baldiger Zeit vielleicht nur mehr in Erzählungen geben wird. Aber eben nur vielleicht, denn solange es engagierte Menschen wie die Shresthas und die Bewohner von Dhungana Tol gibt, hat der Ganges-Flipper zumindest eine kleine Überlebenschance.

MartinZinggl, geboren 1983, hat Kultur- und Sozialanthropologie studiert und lebt als Autor und Dokumentarfilmer in Wien, Barcelona und derzeit Nepal.