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Floridsdorf an der Copacabana

Von Martina Farmbauer

Reflexionen

Wiener Spuren in Rio de Janeiro: Ein Besuch bei Victor Klagsbrunn, der - vermittelt über den Schriftsteller Erich Hackl - auf seine österreichischen Wurzeln aufmerksam wurde.


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Wie viele Leben passen in ein Leben? - Victor Klagsbrunn sagt: "Viele".
© Farmbauer

Der Besuch bei Victor Klagsbrunn in Copacabana beginnt mit Kaffee und Büchern - über Immi-gration, Exil und von Erich Hackl. Der österreichische Schriftsteller hat Victor und der Familie Klagsbrunn eine Erzählung in dem Band "Drei tränenlose Geschichten" (Diogenes, 2014) gewidmet. Victor Klagsbrunn hat die Bücher in dem geräumigen, geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer mit der großen Fensterfront schon vorbereitet, gestapelt und ausgebreitet.<p>"Sitzt du bequem?", fragt er. Neben mir auf dem Sofa ist ein Foto von Kurt Klagsbrunn aufgestellt, das, wie Victor sagt, gerade von einer Ausstellung zurückgekommen ist. Ein Bub schaut sehnsüchtig von einer Treppe auf die Erwachsenen hinunter. Victor Klagsbrunn holt zwei Bildbände über seinen Onkel Kurt: Das eine Exemplar ("Refúgio do olhar: a fotografia de Kurt Klagsbrunn no Brasil dos anos 1940") ist in Brasilien erschienen, der andere Band (Kurt Klagsbrunn: "Fotograf im Land der Zukunft") in Deutschland und Österreich. Die Themen im Gespräch mit Victor überkreuzen sich. Das ist zwar typisch brasilianisch, dass Unterhaltungen nicht unbedingt linear laufen, aber es stellt sich auch die Frage: Wie viele Leben passen in ein Leben?<p>

Dokumentarist Kurt

<p>"Viele", sagt Victor Klagsbrunn. Seine Großeltern Leo und Fritzi Klagsbrunn sind vor den Nationalsozialisten aus Wien nach Brasilien geflohen; Victor und seine Frau Marta führte die Flucht vor der Militärdiktatur in Brasilien von Rio nach Chile, Argentinien, Rom und schließlich Berlin. Und er verwaltet das Erbe seines Onkels Kurt Klagsbrunn, des humanistischen Fotografen und großen Dokumentaristen Rio de Janeiros der 1940er bis 1960er Jahre. Rio war damals die Hauptstadt Brasiliens, bevor es von Brasília abgelöst wurde.<p>Ausrüstung und Material waren so teuer, dass die meisten Fotografen, die hier tätig waren, aus dem Ausland stammten, wie eben auch Kurt Klagsbrunn, der 1918 in Wien geboren wurde und 1937 mit seinen Eltern und seinem Bruder Peter in Rio de Janeiro ankam. 200.000 Fotos, Dias, Negative und Kontaktabzüge Kurts, der auch schon Fotos aus Wien nach Rio mitgebracht hat, lagern noch in dessen ehemaligem Wochenendhaus in den Bergen hinter Rio de Janeiro.<p>Victor hat sich am Wochenende nicht ausgeruht, sondern wieder einmal Fotos gesucht, um die man bei ihm angefragt hat, diesmal für ein Museum in Deutschland. Und hat sich dabei selbst als Achtjährigen auf einem Foto bei der Grundsteinlegung der Synagoge der deutschen und österreichischen Juden in Rio gefunden. Victor Klagsbrunn lacht, als er davon erzählt. Nicht, dass der jüdische Glaube für ihn von übermäßiger Bedeutung wäre. Aber Victor freut sich über den Fund, denn das Verhältnis zu seinem Onkel war zu Lebzeiten zwiespältig gewesen. So menschenfreundlich seine Fotos erscheinen, so unzugänglich war Kurt als Mensch. Das "Museu de Arte do Rio" (MAR) hat dem Fotografen Kurt Klagsbrunn im vergangenen Jahr eine Ausstellung gewidmet, die Victor und seine Frau Marta kuratiert haben. Kurt würde im kommenden Jahr 100 werden.<p>Victor Klagsbrunn hat denn auch nicht gleich verstanden, dass es bei unserem Gespräch um ihn gehen soll - und nicht um seinen Onkel. Dabei hat Victor selbst viel zu erzählen, unabhängig davon, dass er Karriere als Wirtschaftswissenschafter gemacht hat. Zuerst war er Assistent und dann Professor an der "Universidade Federal Fluminense" (UFF), zudem ist er Präsident der "Associação de Ex-Bolsistas da Alemanha" (AFBA), des Verbandes ehemaliger brasilianischer Stipendiatinnen und Stipendiaten in Deutschland. Und es mag erstaunen, aber - vielleicht, weil er es von seinen Eltern so gewohnt ist - Victor Klagsbrunn geht davon aus, dass solch ein bewegtes Leben "normal" ist - was auch immer das bedeuten mag.<p>"Die meisten Leute bekommen nicht diesen Eindruck, weil ihr Leben nicht dokumentiert wird. Ich hatte das Glück, dass der Erich versucht hat, darüber zu schreiben", sagt Victor. "Und ich habe auch Bilder, sie bringen Geschichte hinein." - "Der Erich" ist der Schriftsteller Erich Hackl, der der Familie Klagsbrunn den "Vorschein einer Geschichte" in "Drei tränenlose Geschichten" gewidmet hat. Der Titel bezieht sich auf einen Brief, den seine Studienkollegin Eva Rhoden Kurt Klagsbrunn geschrieben hat. Er endet damit, dass sie und ihre Schwester "sehr tränenlos" aus Wien weggegangen seien.<p>Die Geschichte beginnt mit einem Foto, das Hackl beschreibt: Ignaz Klagsbrunn mit Ehefrau und elf Kindern, unter ihnen Victors aus- beziehungsweise eingewanderter Großvater Leo vor ihrer Floridsdorfer Villa. "Ich habe das Foto im Computer, möchtest du es sehen?", fragt Victor Klagsbrunn.<p>Victor hatte auch Glück, weil er seine österreichischen Wurzeln lange Zeit fast nicht gekannt hat. "Ich habe über die Familie meines Vaters nicht viel gewusst, er ist früh gestorben", als Victor Klagsbrunn gerade einmal sechs Jahre alt war. "Meine Mutter hat uns großgezogen" - ihn und seine Schwester Vera. Doch die Mutter war eine Deutsche aus Berlin. "Und als meine Großmutter gestorben war, ging der Zugang zu Österreich völlig verloren."<p>

"Jude Klagsbrunn"

<p>Was der menschenscheue Kurt Klagsbrunn, Victors letzter Vorfahre in Rio de Janeiro, der noch in Wien geboren war, über die Familie preisgab, war nur Stückwerk, es reichte nicht, um die Zusammenhänge zu verstehen. Wären da nicht seine Tochter Luana und Erich Hackl gewesen, hätte Victor Klagsbrunn den Zugang vielleicht nie wieder gefunden.<p>Victors Tochter Luana, die heute in Deutschland lebt, hat den Stein ins Rollen gebracht. Sie hat irgendwann gelesen, dass Österreich die Akten der Nazizeit freigeben würde. Und sie hat die Unterlagen zu allen zehn Geschwistern ihres Urgroßvaters nach Rio angefordert. "Es sind die Geschwister, die auf dem Foto sind", sagt Victor Klagsbrunn. Dem Foto, das Erich Hackl am Anfang seiner Geschichte beschreibt und das Victor auf seinem Computer hat.<p>Er erinnert sich noch gut an den Tag, als man ihn aus dem Unterricht holte, den er an der Universität in Niteroi gab, weil seine Tochter am Telefon war. Sie sagte ihm, dass die Akten aus Österreich gekommen seien. Überall stehe "Jude Klagsbrunn" - und es sei "Gestapo Wien", "Gestapo Berlin" darauf gestempelt. "Ich habe drei Tage nur dieses Amtsdeutsch gelesen", sagt Victor Klagsbrunn, "fürchterlich." Es ging um das Eigentum seines Großvaters, das dieser in Wien zurückgelassen und einer Nicht-Jüdin überschrieben hatte, was die Nationalsozialisten ärgerte.<p>Er hatte die Vergangenheit erst einmal wieder ruhen lassen, als Johannes Kretschmer ihm sagte, dass Erich Hackl eine Lesung am Goethe-Institut Rio de Janeiro halten werde - und er Hackl schon von ihm, Victor, erzählt habe. Hackl war auf Einladung des Literaturdozenten Kretschmer in Rio, der an der "Universidade Federal Fluminense", an der auch Klagsbrunn gelehrt und geforscht hat, ein Programm organisiert, in dessen Rahmen er einmal im Jahr einen deutschsprachigen Schriftsteller nach Rio de Janeiro bringt.<p>Die Lesung aus dem Buch "Als ob ein Engel", das eine Geschichte von einer "Verschwundenen" im Argentinien der 1970er Jahre erzählt, berührte Victor sehr. Am Tag danach besuchte ihn Erich Hackl zu Hause in Copacabana; die beiden unterhielten sich lange, Victor Klagsbrunn zeigte Hackl die Akten (und überließ sie ihm, während er zum Zahnarzt ging). Hackl machte sich Notizen - und das war der Beginn der Geschichte über die Familie Klagsbrunn in besagtem Buch.<p>Victor Klagsbrunn blättert in der Mappe mit den Akten, die er aus dem Nebenzimmer geholt hat. "Ich stamme aus einer Flüchtlings- beziehungsweise Einwandererfamilie. Aber ich habe das nie so wahrgenommen. Für mich war der Bezug immer Brasilien." Berlin, die Stadt, aus der seine Mutter kam, in der Victor elf Jahre im Exil gelebt und in Politik und Wirtschaft promoviert hat, war für ihn auch nur temporär. Er war in dieser Zeit auch einmal in Wien, hat aber keine Spuren seiner Familie gefunden - ja wusste nicht einmal, wo er danach suchen sollte. Er hatte keine Adresse und von Floridsdorf, jenem Bezirk, in dem seine Großeltern gewohnt hatten, nur gehört. Seine Großmutter hatte immer wieder davon erzählt.<p>Hackl, dessen Geschichten vor allem in den dunklen Jahren des 20. Jahrhunderts angesiedelt sind, im Nationalsozialismus und in den Diktaturen Lateinamerikas, welch beide Stränge sich in der Geschichte der Familie Klagsbrunn verbinden, wusste Informationen einzuordnen und Zusammenhänge herzustellen. Mit ihm gemeinsam folgte Victor Klagsbrunn Spuren, suchte Orte auf. Er fand heraus, dass ein Großonkel im Konzentrationslager in Jasenovac ermordet worden ist - und nicht auf der Flucht gestorben war, wie es in der Familie geheißen hatte. Und an einem kalten, regnerischen Tag entdeckte er das Grab Ignaz Klagsbrunns auf dem Jüdischen Friedhof in Floridsdorf.<p>

Präsident des FAC

<p>So schließen sich für Victor Klagsbrunn nach und nach die Kreise, nicht nur in Österreich, sondern auch in Rio de Janeiro. Er hat Wien und Österreich nun in sein Leben integriert. Erst im vergangenen Jahr war Victor bei dem Symposium "Jüdischer Sport in Metropolen" in Wien, bei dem es um seinen Großvater Leo Klagsbrunn ging, der Präsident des Floridsdorfer AC war. Victor bewahrt noch heute ein Plakat mit der Ankündigung eines Doppelspieltags des FAC von 1936 in seinem Wohnzimmerschrank in Rio auf.<p>Die Theatergruppe, in der Victor Klagsbrunn und seine spätere Frau Marta an der Universität spielten und die eine Gruppe des zuerst künstlerischen und dann politischen Widerstands gegen die Militärdiktatur war, hat sich 50 Jahre danach wieder getroffen. Die ein oder andere Probe hat schon stattgefunden. Ein Verein ist entstanden, Victor, Marta und die anderen Mitglieder der Gruppe wollen ein Stück aufführen.<p>Nur wenige der ehemaligen Mitstreiterinnen und Mitstreiter sind am Theater geblieben, viele sind in die Politik gegangen. "Das wurde dann immer schlimmer mit der Diktatur", sagt Victor. Die Verfolgung war noch "schlimmer als die seiner Eltern und Großeltern"; die Folter "so schlimm, dass sie nicht zu beschreiben ist, nicht beschrieben werden darf", schreibt Erich Hackl. Schließlich das Exil. Dass es nicht einfach werden würde, nach Brasilien zurückzukommen, war Victor klar. "Ich hatte Erfahrungen gesammelt und wollte etwas machen für mein Land." Er musste vorsichtig sein, um nicht als chato, als Nervensäge oder Besserwisser, zu gelten. "Noch heute bewege ich mich mehr als meine Studentinnen und Studenten." Victor sagt: "Ich fühle mich nicht. . ." - er sucht nach dem Wort, spricht über etwas anderes, um dann "alt" zu sagen . . .

Literatur:
Kurt Klagsbrunn. Fotograf im Land der Zukunft.: Mit Beiträgen von Erich Hackl und Klaus Honnef. Herausgegeben von Barbara Weidle und Ursula Seeber. Mitarbeit: Victor und Marta Klagsbrunn. Weidle Verlag, 2013

Erich Hackl: Drei tränenlose Geschichten. Diogenes, 2014

- : Als ob ein Engel: Erzählung nach dem Leben. Diogenes, 2007

Martina Farmbauer lebt als Journalistin in Rio de Janeiro.