Zum Hauptinhalt springen

Fluch der Karibik

Von Marc Tornow

Reflexionen
Zwischen Abgasen und Kriminellen: Fußgänger sind in Port-au-Prince ständig in Gefahr.
© Tornow

Haiti ist landschaftlich pittoresk und paradiesisch schön. Die Folgen von Diktaturen und Naturkatastrophen belasten die Insel-Nation und ihre bitterarme Bevölkerung aber bis heute.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Ach, Sie wollen alleine los", Jean Baptiste lächelt gequält. "Das ist gegen die Abmachung." Der 32-jährige Haitianer berät ausländische Unternehmen in Sicherheitsfragen. Seine Präsentation hat nur einen Inhalt: die Unversehrtheit von Personen in und um Port-au-Prince. Etwa die Hälfte der haitianischen Hauptstadt sollte gar nicht erst betreten werden. Es ist Niemandsland. In Vierteln wie Martissant, Carrefour oder Bel Air, in denen die Menschen dicht gedrängt um ihr Überleben kämpfen, haben bewaffnete Banden die Kontrolle übernommen. Es kommt zu Überfällen, Entführungen, Mord. "Nicht mal ich könnte dorthin fahren", resümiert Jean Baptiste.

Es ist die schiere Ausweglosigkeit der Leute in den weitläufigen Slums der Kapitale, die die Kriminalitätsraten seit 2010 noch einmal in die Höhe schnellen ließ. Damals, vor acht Jahren, als die Erde das ohnehin strukturschwache Land mit einer Stärke von 7,0 auf der Richterskala erzittern ließ und der von Diktaturen und Kleptokraten gebeutelten Nation auch noch die letzte Infrastruktur entriss.

Ein Stadt- und Sittenbild: Die Ruine des Bicentennial Monuments in Port-au-Prince.
© Marc Tornow

Diebe machen selbst vor den Ärmsten der Armen nicht Halt, weil es ihnen gewählte Politiker so vorleben. Und ein Ausländer ist erst recht ein lohnendes Ziel. "Auf keinen Fall eine Bank besuchen", warnt Jean Baptiste. "Sie werden beim Herauskommen schon erwartet." Ein wenig Scham über die Verhältnisse in seiner Heimat ist dem jungen Mann anzumerken, als er weitere Risikoquellen benennt. Eine fehlende medizinische Versorgung für Notfälle etwa, was lebensbedrohliche Folgen haben kann. Außerdem sollten ausschließlich vorbestellte Wagen genutzt werden.

Zu Fuß sind in der Hauptstadt sowieso nur wenige Gäste unterwegs. "Wohin auch", hinterfragt Baptiste ungläubig die für ihn überraschende Publizität von Port-au-Princes Straßen. Bestenfalls im malerisch am Hang gelegenen, indes schmucklosen Diplomatenvorort Pétion-Ville tingelt die überschaubare Riege der Expatriates zwischen drei Supermärkten und vier Restaurants umher, in denen der Teller Nudeln für umgerechnet 25 Euro gereicht wird. "Alles Importware, das hat seinen Preis."

Der Bewegungsradius bleibt begrenzt in einer Stadt, die ohne ein Zentrum auskommen muss. Im Regierungsviertel sollte sich dies ändern. Mit dem Bicenten-nial Monument sollte Port-au-Prince nach dem Willen des früheren Staatschefs Jean-Bertrand Aristide endlich ein echtes Wahrzeichen bekommen. Doch noch ehe der zum 200. Jubiläum der Unabhängigkeit gedachte Turm fertiggestellt wurde, jagte man seinen Bauherren 2004 ins Exil. Mit dem früheren Laienprediger verschwanden auch die Millionen.

Um die pyramidenartige Ruine ist dieser Tage allerdings wieder Baulärm zu hören. Maurer hantieren vis-à-vis an einem Gebäude, das den lokalen Ministerien endlich Platz bieten soll. "Haiti hat keine funktionierenden Institutionen", beklagt Louis Moncoeur. Der Politologe erinnert an die Wurzeln des Landes. Eine agrarwirtschaftlich geführte Sklaven-Republik, die sich ihre Unabhängigkeit von Frankreich mitsamt milliardenschwerer Abschlagszahlungen hart erkämpft hat.

"Darum sieht es hier so aus, wie es aussieht", sagt der 43-Jährige. Seit die Trikolore vom Präsidentenpalast geholt wurde, geben sich die Diktatoren im vormals als "Perle der Karibik" gerühmten Insel-Staat die Klinke in die Hand, während es ihrer Bevölkerung dauerhaft am Nötigsten fehlt.

Unsichtbarer Staat

Wasser und Strom sind knapp. "Port-au-Prince ist ein Albtraum", bringt es Moncoeur auf den Punkt. Und in diesen gehören auch zerstörerische Wirbelstürme, die alljährlich ab Juni auftreten. Allein Hurrikan Matthew hinterließ 2016 neuerliche Verwüstungen. Der Karibikstaat scheint wie verflucht zu sein. Er hatimmer nur Pech.

Etwa 700 US-Dollar erwirtschaften die Menschen im westlichen Teil der Insel Hispaniola. Pro Person und Jahr. Ihre spanischsprachigen Nachbarn in der östlich gelegenen Dominikanischen Republik bringen es durchschnittlich auf 7000 US-Dollar. Haiti gilt als das am wenigsten entwickelte Land auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Dies erscheint vielen Einheimischen auch der Grund dafür zu sein, dass die Hemmschwelle zur Kriminalität so tief liegt. Wenig illustriert die erbärmliche Situation eindringlicher als ein Besuch in Croix-des-Bouquets. Über die staubige Na-tionalstraße 8 rollen hier täglich die Fernbusse nach Santo Domingo. Doch die wenigsten Leute bekommen für das Nachbarland eine offizielle Arbeitsgenehmigung, etwa in der boomenden Tourismusbranche, und damit auch ein Ticket für die Fahrt in ein neues Leben.

Stattdessen bringen sich die meisten Familien auf andere Weise durch, verkaufen am Straßenrand Maiskuchen, Lotterielose, Haushaltsartikel oder Obst auf Karton, der am Boden zwischen weggeworfenen Plastikflaschen liegt.

"Kürzlich hatten wir eine 17-Jährige in unserer Obhut", berichtet André Clermervil, Divisionsinspekteur der örtlichen Polizeiwache. "Mit 15 fing sie an, als Prostituierte zu arbeiten. Doch ihren Eltern erzählte sie, dass sie die Schule besuche." Das Kind sei nun wieder bei seiner Familie, das illegale Bordell geschlossen. Schutzinitiativen wie diese sind rar in Haiti und gehen auf die Unterstützung ausländischer Hilfsorganisationen zurück. Der Staat selbst bleibt unsichtbar.

"Es gibt Viertel, die gibt es eigentlich gar nicht", sagt Politologe Moncoeur. "Offiziell hat Port-au-Prince zwei Millionen Einwohner, tatsächlich sind es drei." Die geografische Idylle aus majestätischen Bergen vor scheinbarromantischer Meereskulisse trügt. In alle Himmelsrichtungen haben sich kleine Häuser aus grauen Betonblöcken ausgebreitet - eben jene beengten No-Go-Gebiete, vor denen Sicherheitsex- perte Jean Baptiste warnt.

Zwischenfälle vor Wahl

In den meisten Bauten leben ganze Familien zusammen in einem Raum. Ein empfindliches Gebilde von ineinander geschachtelten Mauern, das schon beim nächsten Erdbeben für seine Bewohner zur tödlichen Falle werden kann. Schon jetzt bleibt es dort nach Einbruch der Dunkelheit finster, nur vereinzelt wird irgendwo illegal Energie abgezweigt. Aus diesen Vierteln rekrutieren Politiker immer wieder Heere von Demonstranten.

Auf einen Wink ihrer Gönner hin blockieren sie Straßen oder mutieren zu marodierenden Banden. Ein paar Nahrungsmittel reichen, um für einen bestimmten Kandidaten zu Felde zu ziehen. Für 2019 sind in Haiti Parlamentswahlen angekündigt, und bereits jetzt werden wieder gewaltsame Zwischenfälle bekannt.

Weniger fragil als die Bauweise der steinernen Hütten, die der Lage der Menschen geschuldet ist, findet Moncoeur die Situation, die sie erst dazu getrieben hat. "Unsere Gesetzte erlauben keine ungenehmigten Bauten - das ist genau festgeschrieben. Problematisch ist, dass Haiti keine Institutionen hat, die wirksam kontrollieren, was hier überall passiert."

Korruption belaste ein politisches System, das eher aus flüchtigen Bünden und Seilschaften bestehe. "Ideologische Grundlinien wie bei europäischen Parteien sind uns fremd. Stattdessen bleiben öffentliche Ämter mit der Aussicht auf Macht und Geld verbunden."

Schon wenige Kilometer hinter der Stadtgrenze von Port-au-Prince wird die Luft besser und die enge Bebauung geht zurück. Entlang des Massif de la Selle entspinnt sich pittoreske Natur.

Nie habe er einen schöneren Flecken Erde betreten als im heutigen Haiti, wird denn auch der Entdecker der Neuen Welt, Christoph Kolumbus, zitiert. Das Land hat seitdem unter der Abholzung der Urwälder gelitten, die meisten Bäume wurden längst zu Holzkohle verarbeitet. Bodenerosion ist eine Folge in einem Terrain, unter dem hier im Süden des Landes die tektonische Karibische Platte verläuft. Dort befand sich das Epizentrum des verheerenden Bebens von 2010.

Tourismus als Hoffnung

In der nun von Palmen gesäumten Berglandschaft ist heute von der Katastrophe nichts mehr zu sehen. Durch die immergrüne Szenerie mit ihren schmalen Terrassenfeldern flattern Papageien. Rund neunzig Kilometer sind es von der Hauptstadt bis in den Küstenort Jacmel. Die kurvenreiche Strecke nennt sich Straße der Freundschaft. Sie wurde alsGeste des guten Willens von Frankreich erbaut und endetdirekt an der türkisfarbenenKaribischen See.

Möchte einmal Arzt werden: Dayson (16) mit Mutter Chrisilia.
© Tornow

Hier lebt der 16-jährige Dayson mit Mutter Chrisilia in einem Haus mitten im verwilderten Unterholz. Selbst erhöht am Hang kann Starkregen das wenige Hab und Gut der Familien fortreißen. "Das passierte zuletzt 2016", erinnert sich Dayson an die Folgen von Hurrikan Matthew und wünschte, seine Heimat würde nie mehr von Naturkatas-trophen getroffen. Arzt möchte der fußballbegeisterte Bub einmal werden und träumt (wie seine vier Schwestern) von einem besseren Leben, das derzeitallein von der Ziegenaufzucht der Mutter abhängt.

Sein Traum könnte eines Tages Wirklichkeit werden, denn die Brandung des paradiesisch erscheinenden Meeres gleich vor der Tür bietet viele Potenziale. Noch kehren in den wenigen Strandhotels nur Einheimische ein. Leute aus der dünnen Mittel- und Oberschicht, die hier ihre Wochenenden verbringen.

"Wäre das Leben in Haiti nicht so riskant, würden auch wieder Touristen kommen", hofft auch Sicherheitsexperte Jean Baptiste auf eine positive Entwicklung seiner Heimat.

Marc Tornow, geboren 1972, lebt als Journalist in Hamburg und ist für Zeitungen sowie die deutsche auswärtige Kulturarbeit tätig.