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Fluch des Schnepfenfelds in Odessa

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder aus Odessa

Politik
Eine russische Rakete traf einen Friedhof in Odessa, wo sie 51 Gräber zerstörte oder beschädigte.
© reuters / Igor Tkachenko

Odessas Bürger überstanden das erste Mai-Wochenende zumeist heil. Die Augen bleiben auf Transnistrien gerichtet.


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Gerade als sich in Odessa die Hoffnung zu regen begann, den 2. Mai mit heiler Haut zu überstehen, schlugen die Raketen ein. Die lokalen Behörden hatten jenem Teil der Bevölkerung, der die Schwarzmeer-Metropole noch nicht verlassen hat, an diesem historisch schwer belasteten Tag eine strikte Ausgangssperre verordnet. Zu groß, zu spürbar war zuvor die Angst auf den Straßen der Stadt, dass Russland Odessa für das "bestrafen" könnte, was hier vor acht Jahren passierte. Im Frühjahr 2014 war es nach dem Sturz der Putin-hörigen Regierung von Wiktor Janukowitsch in fast jedem Ballungszentrum der Ukraine zu Straßenschlachten zwischen pro-russischen Sympathisanten und ihren proeuropäischen Gegnern gekommen. Die schlimmste von allen tobte damals in Odessa.

Nachdem sich die Auseinandersetzungen auf das neben dem Hauptbahnhof liegende Kulikovo Polje (deutsch: Schnepfenfeld) verlagerten, ein weitläufiger Platz, der bis in die Sowjet-Ära als Schauplatz für Militärparaden diente, war die Situation eskaliert. Am Ende gab es 48 Tote. Die meisten davon waren Anhänger der prorussischen Fraktion. Um dem Zorn der zahlenmäßig überlegenen Pro-Maidanisten zu entkommen, von denen sie zuvor einen erschossen und den Rest mit Molotowcocktails attackiert hatten, hatten sich die Moskau-Treuen in das am Kulikovo Polje stehende Haus der Gewerkschaften zurückgezogen. Das Gebäude erwies sich als Todesfalle. Als in seinem Inneren Feuer ausbrach, starben dutzende Aktivisten an Rauchgasvergiftung, verbrannten, oder erlagen ihren Verletzungen, nachdem sie aus den Fenstern höher gelegener Stockwerke gesprungen waren.

Provokateure als Märtyrer

Die Propagandamaschine des Kremls machte sich die Tragödie von Odessa fortan verlässlich zunutze. Wiewohl unabhängige Untersuchungen mit an absoluter Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit belegten, dass die Eskalationen, die zu ihr führten, von vom russischen Geheimdienst FSB bezahlten Provokateuren betrieben worden waren, spann Moskau fortan den Mythos von den "Märtyrern vom Kulykovo Polje". So weit, dass sie sogar Wladimir Putin in jener Rede erwähnte, im Rahmen derer er die Invasion der Ukraine zu rechtfertigen suchte. Am 2. Mai 2022 fand in Odessa auch dank der Ausgangssperre nur einer einen gewaltsamen Tod. Wie vor acht Jahren war es Russland, das dafür die Verantwortung trägt. Bei einem Raketenangriff am späten Montagnachmittag, der laut russischen Angaben einen Militärflughafen zum Ziel hatte, starb ein 14-jähriger Junge. Ein 17-jähriges Mädchen wurde schwer verletzt. Beide hielten sich zum Zeitpunkt des Einschlags in einem Wohnhaus nahe dem Flugfeld auf. In seinen Hangars befand sich laut Moskau von den USA an die Ukraine geliefertes Kriegsgerät.

Wiewohl selbst Präsident Wolodymyr Selenskyj persönlich den Tod des Buben beklagte, überwog in Odessa am Tag danach dennoch die Erleichterung. Motto: Angesichts der Schicksalsträchtigkeit des Tages und Putins bekannter Vorliebe für mit historischer Bedeutung aufgeladene Daten hätte es noch schlimmer kommen können. Der Umstand, dass Odessa das erste Mai-Wochenende vergleichsweise unbeschadet überstand, ist allem Anschein nach vor allem der Effektivität des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU zu verdanken. In Odessa und Umgebung waren seit Kriegsbeginn dessen Agenten ausgeschwärmt, um bekannte prorussische Sympathisanten zu überwachen. Im Falle von Anzeichen von Kollaboration wurden und werden nämliche seitdem gestellt und - bisweilen mit unsanften Methoden - verhaftet und einem Richter vorgeführt. Anklage: Landesverrat.

Angst vor Feind im Inneren

Die Angst der Ukraine vor dem Feind im Inneren ist historisch nicht unbegründet. Wie in Donezk und Luhansk hatten Mitglieder des FSB und von ihnen bezahlte lokale Provokateure im Frühjahr 2014 nach der russischen Annexion der Krim in Odessa einen Umsturzversuch unternommen. Anders als im Donbass, in den seinerzeit bereits Soldaten von Putins Armee eingesickert waren, blieb ihr Versuch erfolglos, in der Hafenstadt eine Moskau-hörige "Volksrepublik" zu etablieren. Heute bleibt den Russen indes nur die Hoffnung, dass bald ihre Versuche fruchten, den von ihnen besetzten Teil der Republik Moldau in den Krieg gegen die Ukraine hineinzuziehen. Auch wenn die zunehmend verzweifelter wirken.

Nach den mysteriösen Explosionen in Tiraspol und Umgebung vergangene Woche erschien in Transnistrien am Montag eine Zeitung, in der die kaum eine halbe Million dort lebenden Menschen aufgerufen wurden, sich freiwillig zum Kampf gegen die Ukraine zu melden. Wie viel Mann die Armee Transnistriens zählt, weiß niemand, aber Experten gehen von 5.000 bis 8.500 aus. Das Gleiche gilt für die dort stationierten Streitkräfte Russlands, deren Stärke auf 1.500 geschätzt wird. Sollten sie mobilisiert werden, würde das die Lage für das nur eineinhalb Autostunden entfernte Odessa entsprechend verschärfen. Das Problem für den Kreml scheint indes darin zu bestehen, dass sich die Hoffnung der Transnistrier auf eine "Befreiung" durch Russland bisher in engen Grenzen zu halten scheint. Trotzdem hat das ukrainische Militär die Grenzüberwachung im Westen Odessas verstärkt. Nicht zuletzt, weil es bis zum nächsten historisch aufgeladenen Datum keine Woche mehr dauert und die Angst umgeht, dass Putin nicht mehr vor einer Generalmobilmachung zurückschreckt. Am 9. Mai begeht Russland den Tag des Sieges über Nazi-Deutschland.