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Flucht der Revolutionäre

Von Walter Hämmerle

Leitartikel

Die Romantisierung der arabischen Revolution erhält, kaum dass ihre ersten Erfolge gefeiert sind, einen ersten Makel: Tunesiens Bürger stürzten - mit dem Ruf nach mehr Freiheit und Demokratie auf den Lippen - ihren Diktator. Mit diesem fielen auch die verhältnismäßig rigiden Grenzkontrollen des Regimes: Es war das Startsignal für den Exodus der erfolgreichen Revolutionäre.


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Tausende haben seitdem bereits die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer nach Italien gewagt, ins vermeintlich gelobte Land der Europäischen Union, wo angeblich Milch und Honig für alle fließen.

Dabei sollten diese Bürger jetzt doch ihre neugewonnene Freiheit dazu nutzen, in die Hände zu spucken und sich ein Land nach ihren eigenen Vorstellungen zu erbauen. Statt jetzt, wo sich die Gelegenheit dazu ergibt, einfach das Weite zu suchen. Immerhin haben wir es, so will es jedenfalls die große Erzählung der europäischen Nachkriegsgeschichte, nach 1945 auch so gehalten.

Aber der Mensch ist, zumindest wenn es um das Wesentliche geht, ein relativ pragmatisch gestricktes Wesen. Er geht bei ausreichender Gelegenheit stets den einfacheren Weg. In diesem Fall ist das eben das Auswandern.

Die wahrscheinlichste Reaktion Europas ist ebenso vorhersehbar wie das aktuelle Verhalten der Tunesier: Die Grenzkontrollen werden verschärft, die Festung Europa noch uneinnehmbarer werden. So will es die überwiegende Mehrheit der europäischen Bürger. Und eine solche Strategie kommt - zumindest auf den ersten Blick - auf alle Fälle billiger als milliardenschwere Kooperations- und Investitionsprogramme. Auch Politiker sind große Pragmatiker vor dem Herrn.

Der Schritt von der inneren zur äußeren Migration über den Umweg einer erfolgreichen Revolution von ausgerechnet jenen Bürgern, die die treibenden Kräfte dieses Umsturzes waren, wäre eine besonders bittere Ironie der Geschichte. Aber zur Freiheit gehört eben auch, die Möglichkeit zur Flucht zu ergreifen, wenn diese sich bietet.

Dieser abrupte Einbruch ganz individueller Realpolitik will nur so ganz und gar nicht in unser europäisches Wunschbild der aktuellen arabischen Revolution passen.