Die offizielle Türkei bezeichnet getötete Soldaten als Märtyrer. | Doch so nennen viele Kurden auch die toten PKK-Kämpfer.
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Er wollte ein ganz normales Leben. Studieren, arbeiten, heiraten, Kinder haben, in Ruhe alt werden. Doch Necati Günes wurde nicht einmal 25 Jahre alt. Er hat die Universität nicht abgeschlossen, und er hat auch keine Familie gegründet. Stattdessen ist er in die Berge gegangen und hat sich der PKK angeschlossen, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans.
Er starb am 19. Juni. Die Gefechte der PKK mit der türkischen Armee an der Grenze zum Irak kosteten an dem Tag auch das Leben von elf Soldaten. Wie viele PKK-Mitglieder neben Günes getötet wurden, war unklar.
Die kurdische Nachrichtenagentur Firat, die als PKK-nahe gilt, stellt die Frage, warum Necati Günes in die Berge ging. Und beantwortet sie mit der Lebensgeschichte des Kurden.
Günes wurde 1986 in Van geboren, nahe der Grenze der Türkei zum Iran. Es ist eine verarmte, wirtschaftlich vernachlässigte Region, in der Menschen wegen der Kämpfe aus ihren Bergdörfern vertrieben wurden und in Städten Arbeit suchen, die sowieso rar ist. Günes absolvierte dort die Volksschule und das Gymnasium. Danach schaffte er die Aufnahmeprüfung für die Universität und ging nach Ankara, um Vermessungswesen zu studieren. Gemeinsam mit drei Freunden mietete er eine Wohnung. Er beteiligte sich an politischen Diskussionen. Und dann geriet er ins Visier der Anti-Terror-Bekämpfer.
Die PKK wird - auch von der EU - als Terrororganisation eingestuft, und wer in den Verdacht gerät, mit ihr zu sympathisieren, kann aufgrund der Anti-Terrorismus-Gesetze angeklagt werden. Manchmal genügt die Teilnahme an einer Demonstration für mehr Minderheitenrechte für die Kurden, um als PKK-Sympathisant zu gelten.
Nach Ausschreitungen bei einer Newroz-Feier, dem kurdischen Neujahrsfest, machte die Polizei in mehreren türkischen Städten eine Razzia. Dutzende Kurden wurden verhaftet, darunter auch Günes Mitbewohner. Die Universität leitete eine Untersuchung gegen den Studenten ein. Der Hausbesitzer, von der Polizei unter Druck gesetzt, kündigte den jungen Männern den Mietvertrag.
Günes fuhr in den Sommerferien nach Van; in einem Vereinslokal geriet er in die nächste Razzia. Er wurde verhaftet und der Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation beschuldigt. Er saß fast neun Monate im Gefängnis. Danach ging er nach Ankara zurück. Doch die Polizei ließ ihn nicht in Ruhe. Er wurde beschattet und bedroht.
Im Mai des Vorjahres reichte es Günes. Er gab sein Studium auf. Und er ging in die Berge. Gut ein Jahr später war er tot.
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Nach Angaben der Zeitung "Milliyet" sind in dem türkisch-kurdischen Konflikt in 25 Jahren mehr als 42.000 Menschen getötet worden. Fast 30.000 davon waren PKK-Kämpfer und 5669 Zivilisten.
Bis vor wenigen Jahren wurde in der türkischen Öffentlichkeit kaum thematisiert, dass es auch staatliche Schikanen, Perspektivlosigkeit oder Verzweiflung sein können, die kurdische Jugendliche in die Berge treiben. Die PKK-Mitglieder waren bloß Terroristen. Die getöteten Soldaten wiederum werden als Märtyrer bezeichnet. Ihre Fotos und Lebensgeschichten werden in Zeitungen und im Fernsehen veröffentlicht. Auch diese Männer wollten ein ganz normales Leben führen. Auch sie hinterlassen Familien.
Die Toten der PKK blieben in den Medien meist gesichts- und namenlos. Doch die Geschichte von Necati Günes schrieb nun auch die türkische Zeitung "Taraf" nieder. Sie nannte Günes beim Namen. Der hat - wie die meisten türkischen Namen - eine Bedeutung: Sonne.