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Flucht ins Merkelland

Von Alexander Dworzak aus Baden-Württemberg

Politik

"Wiener Zeitung" begleitete spanische Migranten in Baden-Württemberg.


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Tuttlingen/Konstanz. Das weiße Gewand kaschiert die Schweißflecken, aber die Perlen auf der Stirn verraten die Hitze und die Anspannung der Teilnehmer. Die roten Halstücher sitzen nicht zu locker, am Bund baumeln die ebenfalls roten Schärpen. 825 Meter liegen vor ihnen, durch die Altstadt geht es bis zur Arena - ein kurzer Fußmarsch. Aber in Pamplona bedeuten 825 Meter eine Ewigkeit, wenn man vor Stieren davonläuft. Alljährlich findet im Juli in der nordspanischen Stadt die Fiesta San Fermin statt; Einheimische und Touristen lassen den Stadtpatron hochleben und setzen sich dabei auch dem so traditionellen wie lebensgefährlichen Stierkampf aus.

Zum Feiern war María Asín in ihrer Heimatstadt Pamplona nicht mehr zumute - obwohl die Ingenieurin im Gegensatz zu so vielen ihrer Landsleute einen Job hatte. Die 38-Jährige arbeitete in einem Spital, ihr Mann Jon war für einen Haushaltsgerätehersteller tätig. Dennoch wagten die beiden den großen Schritt: Ende 2012 zogen sie mit den drei Söhnen Martín, Pedro und Yago nach Deutschland. "Natürlich war es schwierig zu gehen. Aber es ist mittlerweile unmöglich, den Job innerhalb Spaniens zu wechseln und wir wollten eine Perspektive - auch für unsere Kinder", erklärt María ernst, aber ohne Bitterkeit.

4,7 Millionen Spanier hatten Anfang September keinen Job, mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Noch vor fünf Jahren waren vergleichsweise geringe 11,3 Prozent ohne Beschäftigung. Der rapide Anstieg der Arbeitslosigkeit ist auch Ergebnis von Angela Merkels Politik, die ihren Sparkurs zum Leitmodell für Europas Weg aus der Krise gemacht hat. Nicht anzulasten sind Deutschlands Kanzlerin die Voraussetzungen der Malaise in Spanien: ein überbordender Bausektor, der bis zu 20 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung ausmachte. Banken vergaben arglos Kredite an Kunden, die Immobilien als reine Spekulationsobjekte erwarben - für die Sanierung der maroden Kreditinstitute stehen 100 Milliarden Euro aus dem Euro-Rettungsfonds bereit. Doch nach fünf Jahren der Krisenbewältigung à la Merkel steckt die halbe EU in der Rezession, die andere Hälfte zeigt kein oder nur geringes Wachstum. Antideutsche Proteste über ein deutsches "Diktat" wurden daher in Südeuropa zur Folklore, Plakate, die Merkel wahlweise mit Hitlerbart oder in SS-Uniform zeigen, schafften es zu trauriger Normalität.

Merkelnomics blieben ohne Alternative

Der Austeritätskurs der Kanzlerin ist ein Produkt der Schwäche anderer EU-Führungsnationen, allen voran Frankreichs, des zweiten Motors der EU-Integration. Seit Jahren lavieren konservative und sozialistische Regierungen bei Reformen, die Deutschland unter Merkels Vorgänger Gerhard Schröder umgesetzt hat. Die Agenda 2010 fegte den Sozialdemokraten bei der Wahl 2005 aus dem Kanzleramt, die SPD stellte seitdem nie mehr den Regierungschef. Von knapp fünf Millionen auf 2,8 Millionen wurde durch die Maßnahmen die Arbeitslosigkeit gedrückt, auch mit den hässlichen Begleitfolgen Zeitarbeit und einer Schwemme an Jobs im Niedriglohnsektor. Dafür reüssiert Deutschland auf den Weltmärkten, kommt der Aufstieg der Schwellenländer der Exportbranche entgegen.

Rasant steigt daher der Zuzug nach Deutschland. 18.000 Spanier zogen alleine 2012 nach Deutschland, um 45 Prozent mehr als im Jahr zuvor. "Das Wetter hier ist nicht gut, aber das war es in Nordspanien auch nicht", schmunzelt María Asín. Hier ist Tuttlingen, eine 35.000-Einwohner-Stadt im Südwesten Deutschlands in der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg, rund 560 Kilometer Luftlinie von Wien entfernt. Die noch junge Donau fließt durch Tuttlingen als schmaler, sanfter Strom. Rasant pocht dagegen in Baden-Württemberg das Herz des vielgerühmten deutschen Mittelstands: Handwerksbetriebe, Maschinenbauer oder Autozulieferer sind hier beheimatet. Alleine die 130.000 Handwerksbetriebe im südwestlichen Bundesland machen 65 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. Die Firmen gelten als Innovationsmotoren, Tuttlingen hat sich mit 600 Firmen in der Medizintechnik gar den Ruf als "Welthauptstadt" der Branche erworben.

Auch María Asín hat einen Job in der Medizintechnik gefunden, sie arbeitet bei der Firma Karl Storz, die auf Endoskope spezialisiert ist. Ein zweistöckiges Haus am Rande Tuttlingens ist das neue Heim der Familie. Das große graue Ecksofa haben sie ebenso aus Spanien mitgenommen wie das Klavier - Erinnerung an eine Heimat, die ihnen fremd geworden ist. Gemessen an der Gesamtzahl der arbeitslosen Spanier hält sich die Auswanderung nach Deutschland aber noch in Grenzen. Die Skepsis beruhte lange auf Gegenseitigkeit. Laut einer Umfrage des Zentralverbands des deutschen Handwerks 2011 stellten lediglich 1,9 Prozent der Handwerksbetriebe ausländische Fachkräfte außerhalb Mittel- und Osteuropas an.

"Es ist schmerzhaft, niemanden zu kennen"

Mittlerweile suchen die Unternehmen auch in Spanien händeringend nach qualifizierten Ingenieuren und Handwerkern. So schlossen sich in der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg Vertreter von Wirtschaftsförderung, Arbeitgeberverbänden, Kammern, Gewerkschaften und Bildung sowie der Agentur für Arbeit zu einer Fachkräfteallianz zusammen. 100 vorab ausgewählte spanische Ingenieure wurden im Juni 2012 zu Vorstellungsgesprächen nach Baden-Württemberg eingeladen. Auch María Asín bewarb sich, obwohl ihr der Schritt nicht leicht fiel: "Es ist schmerzhaft, niemanden in einer Stadt zu kennen und die Sprache nicht zu beherrschen."

Schmerzhaft sind auch die Einschnitte in Spanien, denn das Haushaltsdefizit von 6,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts muss auf drei Prozent gesenkt werden. Neuester Vorschlag der Regierung: Die Pensionen sollen nicht mehr automatisch mit der Inflation steigen, das spare 33 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren. Der Internationale Währungsfonds schlägt gar vor, in Spanien sollen die Löhne um zehn Prozent gesenkt werden. Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit ist das große Zauberwort bei den Kreditgebern - und von Angela Merkel.

Mehr Anstrengung contra "schwäbische Hausfrau"

Leistung muss belohnt, Wohlstand durch Reformen erworben werden. Das ist einer der Grundsätze der CDU-Kanzlerin; eine Konsequenz, die Merkel aus ihrem Leben in und dem Scheitern der DDR gezogen hat. Wenn die Europäer mit nur sieben Prozent der Weltbevölkerung und weniger als einem Viertel der weltweiten Wirtschaftsleistung die Hälfte aller Sozialausgaben beanspruchten, müssten sie sich anstrengen, referierte Merkel beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Diese Grundhaltung trifft bei den Deutschen einen Nerv. Der britische Star-Soziologe Colin Crouch attestiert Merkel dagegen das Verhalten einer "schwäbischen Hausfrau, die nicht versteht, dass verschuldete Personen nicht bestraft werden sollten".

Als Nicht-Schwäbin und Nicht-Hausfrau versucht María Asín in Baden-Württemberg Fuß zu fassen. Dreimal pro Woche besucht die 38-Jährige einen Sprachkurs, zusätzlich übt sie täglich daheim nach der Arbeit. "Deutsch ist sehr schön, aber sehr schwer", sagt María. Ehemann Jon, den sie während des Ingenieurstudiums in San Sebastián kennengelernt hatte, kann sich ebenfalls auf Deutsch verständigen. Seit zwei Wochen arbeitet auch er in der Region, davor kümmerte sich der ebenfalls 38-Jährige um die drei Söhne. Der sechsjährige Pedro wird soeben eingeschult, seinem drei Jahre älteren Bruder Martín fällt die Umgewöhnung auf die deutsche Sprache hörbar leicht. Er spielt leidenschaftlich gerne Fußball, kickt für einen Tuttlinger Verein. Martíns Lieblingsclub ist nicht Real Madrid, Barcelona oder ein anderer spanischer Verein: Er mag Bayern München.

Rascher Spracherwerb, regelmäßiger Kontakt mit den deutschen Arbeitskollegen und der Nachbarschaft - Familie Asín ist ein Modellfall. Kamen in den 1960ern und 70ern vier Millionen großteils ungelernte Arbeitskräfte nach Deutschland, verfügen heute 43 Prozent der Neuzuwanderer zwischen 15 und 65 Jahren über einen Meister, Hochschul- oder Technikerabschluss, so eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Qualifiziertes Personal kann sich aussuchen, ob es in Deutschland bleibt, in die Schweiz oder nach Norwegen zieht.

Bei der Fachkräfteallianz Schwarzwald-Baar-Heuberg ist man sich des Problems bewusst, versucht die Spanier über gemeinsame Aktivitäten zu binden. Ein Club wurde gegründet, im Sommer stand ein Grillfest auf dem Programm. Mitte September treffen sich 30 spanische Handwerker und Ingenieure, die in der Region arbeiten, in Konstanz. Die Bodenseegegend ist bekannt für ihr mildes Klima, quasi-mediterranes Flair soll vermittelt werden. Neue Kontakte werden geknüpft, Telefonnummern und Facebook-Kontaktdaten ausgetauscht.

"Wenn es keinen anderen Weg gibt, muss man die erstbeste Chance ergreifen und nach vorne sehen", gibt sich Roberto Quiroga pragmatisch. Der 34-jährige gelernte Gipser ist im April nach Deutschland gekommen und arbeitet nun als Stuckateur. Roberto strahlt, vor kurzem wurde seine sechsmonatige Probezeit in ein unbefristetes Dienstverhältnis umgewandelt. Seine Miene verzieht sich aber bei dem Gedanken, von Freundin und Kind getrennt zu sein. Robertos Partnerin Olalla betreibt einen Friseursalon, der 16 Monate alte Sohn ist bei ihr. "Wir telefonieren täglich. Im Jänner schaut sich Olalla Tuttlingen an, eventuell bleibt sie."

Auch Adolfo Clotas hofft, dass ihm Freundin Jolanda folgen wird. Der großgewachsene Maurer aus der Nähe von Barcelona war fast zwei Jahre arbeitslos, dann heuerte er in Deutschland an. Als Architektin hat Jolanda derzeit keine Aussicht auf einen Job daheim, ab Ende September will sie ihr Glück in Baden-Württemberg versuchen. "Wenn es gut geht, können wir uns vorstellen zu bleiben", sagt der 35-Jährige und zieht an seinem Zigarillo. Auch für Roberto Quiroga und María Asín ist das Leben in Deutschland mehr als eine Zwischenstation, bis sich die Wirtschaft in Spanien erholt.

Viele Vorhaben blieben unter Schwarz-Gelbliegen

Weitere unangenehme Maßnahmen stehen auch Deutschland an. Die milliardenschwere Reform der Krankenkassen stockt seit Langem, das Steuersystem ist unübersichtlich und das Bildungswesen Spielweise der Länder. In die Infrastruktur werden 80 Milliarden Euro zu wenig pro Jahr investiert. Und wer heute 2500 Euro brutto pro Monat verdient, kann im Jahr 2030 nur mit einer kümmerlichen Pension von 688 Euro rechnen. Das einzig angepackte Großvorhaben der vergangenen Legislaturperiode war die ausgerufene Energiewende. Sie kommt im Trippelschritt voran.

Noch überstrahlt das Schicksal der daheim gebliebenen die politischen Themen in der neuen Heimat. "Die Spanier verdienen nicht, was gerade passiert. Sie arbeiten nicht mehr oder weniger als andere und brauchen eine Chance", appelliert María Asín. Ihre dunklen Augen funkeln, die bisher ruhig im Schoß liegenden Hände schießen in die Höhe, die sanfte Stimme klingt nun energisch: "Ich hatte Glück. Ich will das Gleiche für meine Landsleute."