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Immer wieder fliehen Menschen ausgerechnet in die Diktatur von Kim jong-un. Doch was sind die Motive dieser Flüchtlinge?
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Seoul. Arturo Pierre Martinez hat sich seine 15 Minuten Ruhm hart erarbeitet: Bereits im September flog der 29-Jährige nach Seoul, schwamm über den Han-Fluss in Richtung Nordkorea und wurde festgenommen. Zurück in seiner Heimatstadt El Paso in Texas, nahm er einen Kleinkredit auf, stieg erneut in den Flieger nach China und probierte es diesmal von der anderen Seite aus, über den Yalu-Fluss - erfolgreich. Nun sitzt er im Pjöngjanger Volkspalast vor dutzenden Journalisten, richtet sich die schwarze Rahmenbrille und spricht in die aufgereihten Mikrofone: "Ich möchte im Folgenden ein paar Fakten über Amerikas imperialistischen Einfluss und Dominanz offenbaren."
In seinem viertausend Wörter langem Statement wird er zu einem Rundumschlag gegen die USA ausholen, gegen deren Wirtschaft, das Wahlsystem und die Missachtung von Menschenrechten. Teile seiner Kritik sind kohärent vorgetragen und durchaus berechtigt, andere Passagen einfach nur wirr: etwa wenn Martinez über UFOs referiert oder von Ultraschallgeräten spricht, die Stimmen in die Gehirne fremder Menschen pflanzen.
Nur einen Tag später löst seine Mutter das Rätsel auf: Sein Sohn leide seit geraumer Zeit bereits an einer bipolaren Störung. Sie hoffe sehr, dass sie Weihnachten mit ihrem Sohn verbringen könne und bedankt sich bei den nordkoreanischen Behörden, dass sie ihren derzeit geistig verwirrten Sohn trotz der illegalen Einreise nicht festgenommen haben. Viele internationale Medien zeigten sich ebenfalls darüber überrascht - zu Unrecht.
Schon Matthew Miller musste alles dafür tun, um von den nordkoreanischen Behörden festgenommen zu werden. Der 25-jährige Kalifornier reiste im April dieses Jahres nach Pjöngjang, zerriss noch am Flughafen sein Touristenvisum und wurde daraufhin von den Behörden gebeten, in den nächstmöglichen Flieger zurück nach China einzusteigen. Doch Miller weigerte sich, er ging einfach nicht weg. Es brauchte mehr als zwei Wochen an ständigen Provokationen, bis er sein Ziel erreichte: die Einzelzelle. Nach einem Prozess wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt, doch letztlich nach Intervention der US-Regierung im November freigelassen.
Später wird er berichten, dass er über die Schwarz-Weiß-Berichterstattung über Nordkorea unzufrieden war und sich selber als Zeitzeuge ein Bild über den vermeintlichen Schurkenstaat verschaffen wollte. Die nordkoreanischen Behörden lockte er mit vermeintlichen Geheiminformationen, die er über das amerikanische Militär hätte. Er gab sich fälschlicherweise als Hacker aus, eine Art zweiter Edward Snowden, der in Verbindung mit Wikileaks stehe.
"Alice im Wunderland"als Manga
Tatsächlich kam er mit 21 Jahren nach Seoul, um seinen in der dortigen US-Militärbasis stationierten Bruder zu besuchen. Wie so viele Zugereiste blieb er letztlich in der 20-Millionen-Metropole hängen und unterrichtete dort Schüler in Englisch. Die letzte Zeit jedoch war er ohne Beschäftigung, hatte dafür aber eine ganze Reihe an skurrilen Plänen: Der Amerikaner war besessen von der Idee, eine Manga-Fortsetzung von "Alice im Wunderland" umzusetzen. "Alice in Red" nannte er sein Projekt.
Dafür trieb er sich in südkoreanischen Anime-Foren herum, legte sich den Namen "Preston Somerset" zu und engagierte bereits mögliche Zeichner, Autoren und Musiker. Zudem besuchte er regelmäßig mit angelerntem britischen Akzent Konversationskurse, bei denen südkoreanische Studenten ihr Englisch aufbessern. Doch statt sich in die Debatten einzuklinken, ergriff Miller nie das Wort, sondern saß nur stumm in der Ecke. Als er gefragt wurde, was er in Südkorea so treibe, antwortete er, er würde als Journalist arbeiten. Veröffentlichungen hatte er freilich keine vorzuweisen.
Miller und Martinez sind beileibe keine Einzelfälle, sondern stehen in einer langen Tradition. Wie ein Magnet zieht Nordkorea immer wieder Fanatiker und Verwirrte an.
Ex-US-Soldaten mimten Bösewichte
Bereits in den 1960ern emigrierten unabhängig voneinander sechs US-Soldaten nach Nordkorea, die infolge des Koreakriegs im Süden stationiert waren. Alle waren sie von ihrem dortigen Leben enttäuscht: Der eine hatte fürchterlichen Liebeskummer, der andere mehrere Disziplinarverfahren am Hals, weil er wiederholt beim Marihuanarauchen erwischt wurde. Eine Mischung aus Todessehnsucht und abenteuerlicher Neugierde trieb sie in den Norden.
Dort wurden sie in Pjöngjang in eine spartanische WG zusammengepfercht, wo sie auf dem Boden schlafen mussten und nicht einmal Zugang zu fließendem Wasser hatten. Bald sollten sie ihre Flucht bitter bereuen, denn mehrere Jahre lang wurden sie in ihrem Zimmer festgehalten und von den Wärtern gezwungen, die Schriften des nordkoreanischen Staatsgründers Kim Il-sung einzustudieren.
Erst nachdem sie ideologisch ausreichend geschult waren, änderte sich ihr Status. Tatsächlich brachten sie es zu bescheidener Berühmtheit als Filmschauspieler. Immer wieder mimten die Amerikaner in nordkoreanischen Propagandafilmen die imperialistischen Bösewichte. Einer von ihnen, der mittlerweile 73-jährige James Dreznok, lebt heute noch immer in Nordkorea - und zwar glücklich, wie er in einer Dokumentation des britischen Senders BBC im Jahr 2006 beteuerte.
Im Vollsuff über den Flussin den Norden
Mitte der 1990er schwamm der 26-jährige Amerikaner Evan Hunziker über den Yalu-Fluss von China nach Nordkorea - nackt und, wie sich später herausstellte, stockbesoffen. Sein Grenzübertritt war das Resultat einer spontanen Wette im Vollsuff. Wenig später wurde Hunziker wieder in seinen Heimatstaat Alaska entlassen, wo noch eine ganze Reihe an ausstehenden Strafprozessen zu Gewalt- und Drogendelikten auf ihn warteten. Im Dezember desselben Jahres nahm er sich das Leben.
Auch der koreanischstämmige US-Aktivist Robert Park kam 2009 schwimmend nach Nordkorea. Seine Intention war keine geringere, als die nordkoreanische Bevölkerung zu befreien. In einem Dutzend handgeschriebener Briefe an Machthaber Kim Jong-il forderte der christliche Missionar den "Großen Führer" auf, alle Arbeitslager zu schließen, deren Insassen freizulassen und selber zurückzutreten. Wenn es nötig sei, so bekundete Park, so werde er als Märtyrer für das koreanische Volk sterben.
Tatsächlich wurde er verhaftet, verurteilt - und wenig später freigelassen.