Bei "Wirtschaftsflüchtlingen" vom Balkan wird oft das Ausmaß der dortigen Misere übersehen.
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Sarajevo. In einem Jahr ist Tamir Kuko fertig mit seinem Marketing-Studium an der Universität Sarajevo. Er hofft, nach dem Abschluss eine Stelle in Deutschland oder Österreich zu finden. "Ich möchte einfach normal arbeiten in einem normalen Land", sagt der 26-Jährige. Dies sei in Bosnien derzeit unmöglich und auch in absehbarer Zukunft sehr unwahrscheinlich. Um sich zu finanzieren, arbeitet Kuko im Moment als Kellner in einem der zahlreichen Cafés der Altstadt, wo junge Menschen stundenlang an einem einzigen kleinen Kaffee nippen.
Die Jugendarbeitslosigkeit verharrt seit Jahren bei mehr als 50 Prozent, deshalb freut sich der Marketing-Student, dass er überhaupt eine Stelle bekommen hat - und das, ohne den Inhaber des Cafés dafür bestechen zu müssen. "Natürlich gibt es keine freien Tage und natürlich reicht das Gehalt gar nicht für eine Miete." Kuko wohnt, wie alle seiner Freunde, mit den Eltern. Er nahm 2014 an den Protesten teil, bei denen Reformen gefordert wurden. Die haben aber wenig gebracht. Er will bald anfangen, Deutsch zu lernen.
Ob die Staaten des Westbalkans "sichere Herkunftsländer" sind, gilt in der aktuellen Diskussion über die "Wirtschaftsflüchtlinge" als umstritten. Im Moment stufen etwa die deutschen Behörden Serbien, Bosnien und Mazedonien als "sicher" ein, während das bei Montenegro, Albanien und dem Kosovo noch nicht der Fall ist. Österreich wiederum betrachtet seit fünf Jahren alle sechs Staaten der Region als "sicher". Das erlaubt es, Asylanträge durch Staatsangehörige dieser Länder in einem Schnellverfahren als "offensichtlich unbegründet" abzulehnen.
Abgesehen von den juristischen Auseinandersetzungen darüber, ob ein solches pauschales Prozedere überhaupt mit dem in den jeweiligen europäischen Verfassungen verankerten Asylrecht vereinbar ist, scheinen die Argumente der Befürworter einer restriktiveren Asylpolitik auf den ersten Blick überzeugend zu sein. Seit mehr als fünfzehn Jahren herrscht in keinem der Westbalkanländer Krieg oder Diktatur. Auch von Verfolgung als systematischer Staatspolitik, wie etwa zu Milosevic-Zeiten, kann längst keine Rede mehr sein. Die weit verbreitete Diskriminierung der Roma mag eine institutionelle Dimension haben, sie ist jedoch in Serbien oder Mazedonien nicht schlimmer als in den EU-Mitgliedern Rumänien oder Ungarn. Gegen Ausgrenzung und Rechtsverletzungen lässt sich auf dem Westbalkan zumindest theoretisch vor Gericht ziehen, ohne dabei gravierende Konsequenzen befürchten zu müssen.
Zusammenbruch der Industrie und keine Sozialausgaben
Warum also suchen viele Menschen aus dieser Region Schutz in Mitteleuropa? In den ersten sechs Monaten dieses Jahres machten sie etwa in der Schweiz fünf Prozent, in Österreich laut Zahlen des Innenministeriums über zehn Prozent und in Deutschland fast die Hälfte aller Asylsuchenden aus. Sind die Gründe ihrer Auswanderung nicht vielmehr wirtschaftlicher als politischer Natur?
Diese Frage zu bejahen, lässt sich in den meisten Fällen schwer vermeiden, obwohl es wichtige Ausnahmen gibt: Nicht nur Roma, sondern auch Schwule, Lesben und Transsexuelle werden außerhalb der Großstädte nicht selten zu Opfern der Gewalt. Manchmal geraten sogar ihr Leben und ihre Existenzgrundlage in Gefahr, und die Tatsache, dass dies genauso in Ungarn passiert, spricht eher gegen Ungarn als gegen die Balkanländer. Es zeigt sich, dass es auf den Einzelfall ankommt und dieser nicht mit pauschalen Kategorien umgangen werden kann.
Doch selbst wenn es sich um wirtschaftlich motivierte Auswanderung handelt, werden die Hintergründe dieser Flucht in der in den Ankunftsländern geführten Debatte oft ignoriert. In den letzten zwanzig Jahren erfuhren die Staaten des Westbalkans eine strukturelle Transformation, die im Nachhinein als unglücklich oder sogar gescheitert bezeichnet werden kann. Abgesehen von den politischen Komplikationen, die das Leben im Kosovo oder in Bosnien heute noch tagtäglich beeinträchtigen, scheinen auch Serbien, Mazedonien oder Montenegro in einer wirtschaftlichen Sackgasse gelandet zu sein. Die zum System gewordene Korruption verursacht zwar viel Schaden, kann aber nur einen Bruchteil der Misere erklären.
Lange vor Griechenland mussten Staaten am Balkan drastische Sparmaßnahmen einführen oder auf nennenswerte Investitionen und Sozialausgaben verzichten. Der Zusammenbruch der alten Industrie, aber auch die Öffnung der Märkte infolge der EU-Assoziierungsabkommen hat zu Massenarbeitslosigkeit und sinkenden Steuereinnahmen geführt.
Abhängigkeit von Eurozone hat dramatische Auswirkungen
In der Region sind die Währungen entweder an den Euro gekoppelt oder stark davon abhängig, was den Regierungen wenig Spielraum für Steigerungen der Wettbewerbsfähigkeit durch Entwertungen lässt. Anders als Kroatien, das bereits der EU beigetreten ist, verfügen die Westbalkanländer nicht über ein natürliches Tourismuspotenzial oder müssten es erst durch massive Infrastrukturinvestitionen verwirklichen, die sie sich nicht leisten können.
Die starke Abhängigkeit dieser Volkswirtschaften von der Eurozone hatte insbesondere nach der Finanzkrise dramatische Konsequenzen: Österreichische und italienische Kreditinstitute wie die Erste Bank oder Unicredit zogen ihr Kapital aus der Region zurück und versuchten nun, den bereits durch die fahrlässige Darlehenspolitik angerichteten Schaden zu begrenzen. Laut Daten der Weltbank ist in Serbien fast ein Viertel der Kreditsummen in Verzug geraten - Tendenz steigend.
Die Zentralbanken müssen in dieser Situation für die Stabilität des Bankensystems sorgen, können aber im Gegensatz zu den Euroländern nicht von den Nothilfemechanismen der EU profitieren, sondern sehen sich in der Regel gezwungen, sich an den IWF zu wenden. Dies bedeutet weitere Einschnitte bei den Sozialausgaben und noch weniger Investitionen. Über die Jahre führt das zu einem strukturellen Problem: Der Staat kann den Bürgern nichts mehr anbieten und kann sich nicht mehr aus eigener Kraft reformieren.
Freilich kann argumentiert werden, all das sei noch lange kein Grund, Asylanträge von Staatsangehörigen dieser Region zu akzeptieren. Ein Umdenken der Beziehungen mit den Westbalkanländern und die Revidierung der extrem restriktiven EU-Einwanderungspolitik scheinen allerdings das Gebot der Stunde zu sein. Brüssel, Berlin und Wien sind Tamir Kuko ein paar Antworten schuldig.