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Europa hat eine riesige humanitäre Verpflichtung und braucht auch Immigration - man sollte in der Debatte aber keine Probleme schönreden.
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Bei der Präsentation der Herbstprognose ließ EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici erstens durch die Annahme aufhorchen, in den drei Jahren 2015 bis 2017 würden rund
3 Millionen Schutzsuchende in der EU ankommen, davon 1,5 Millionen im Jahr 2016. (Das Berliner Wirtschaftsforschungsinstitut DIW legt seiner Studie über die ökonomische Folgen des Flüchtlingszustroms für Deutschland sogar 3,8 Millionen Personen zugrunde.) Die EU-Kommission negiert damit die in wichtigen Mitgliedsstaaten eingeleitete restriktivere Handhabung der Flüchtlingspolitik oder zweifelt an deren Wirksamkeit.
Zweitens legte Moscovici eine Berechnung vor, wonach der Flüchtlingsstrom bereits im Jahr 2017 das EU-weite BIP um 0,2 bis 0,3 Prozent erhöhen könnte. Dem gegenüber errechnet das DIW für Deutschland in seinem Basisszenario positive Effekte erst ab etwa 2020, unter pessimistischeren Annahmen sogar erst ab 2025. Jedenfalls zeigen diese Simulationen eines: Sie hängen kritisch von den Annahmen ab, über die sich trefflich streiten lässt. So gibt es bekanntlich keine verlässlichen Informationen über Ausbildung und Qualifikationen der Flüchtlinge. Dennoch unterstellt die Kommission in ihrer optimistischen Variante, dass die Flüchtlinge über vergleichbare Qualifikationen wie die einheimische Bevölkerung verfügen würden.
Ein weiterer kritischer Punkt ist die Frage der Integrationswilligkeit und -fähigkeit sowie der für die Integration zur Verfügung gestellten Ressourcen. Die Studie des DIW geht davon aus, dass in den ersten Jahren nur vier von zehn Personen eine Anstellung finden dürften, also 60 Prozent von Sozialleistungen leben werden. Aufgrund des im Durchschnitt als niedrig eingeschätzten Qualifikationsniveaus konkurrieren diese mit unqualifizierten heimischen Arbeitskräften um Jobs, die immer weniger angeboten werden.
Natürlich bewirken die Flüchtlinge positive Nachfrageeffekte durch die Finanzierung ihrer Bedürfnisse an Betreuung, Sozialleistungen und Wohnraumschaffung und den logistischen und organisatorischen Aufwand zur Steuerung und Kontrolle der Menschenströme. Dies sind aber überwiegend öffentlich finanzierte Ausgaben, die viele Jahre lang das Wachstumspotenzial nicht steigern werden und zu höherer Staatsverschuldung und/oder zur Verdrängung anderer öffentlicher Ausgaben führen.
Langfristig wird sich die wirtschaftliche Bilanz des Flüchtlingsstroms wohl ins Positive drehen, vor allem angesichts der ungünstigen demografischen Trends; immer vorausgesetzt, dass die Integration gelingt und disruptive politische Entwicklungen vermieden werden können.
Unbestritten braucht Europa Immigration zur Sicherung des eigenen Wohlstands. Eine qualifikationsorientierte Immigrationspolitik in einen Topf mit einem weitgehend unkontrollierten Flüchtlingszustrom und einer chaotischen Flüchtlingspolitik zu werfen, beleidigt allerdings die Intelligenz der europäischen Bürger.
Europa hat natürlich auch eine riesige humanitäre Verpflichtung. Doch die damit verbundenen negativen Auswirkungen ständig schönzureden, ist demokratiepolitisch gefährlich und zerstört noch die letzten Reste des Vertrauens der Bürger in die Politik.