Ein Gespräch mit dem Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth.
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Wien. Bomben, Verfolgung, Terror, Tod und Verzweiflung. Sobald flüchtende Menschen in Europa angekommen sind, warten weitere Strapazen. Ein Flüchtling in Ungarn sagte am Freitag: "Wäre ich doch lieber in Syrien gestorben, als in Ungarn in ein Flüchtlingslager zu kommen." Der Generalsekretär der ungarischen Malteser László Adányi meinte, dass die psychische Belastung vor Ort für die Flüchtlinge sehr groß ist. Sie sei ein ebenso großes Problem, wie die Krankheiten. Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth.
"Wiener Zeitung":Wie wirken sich Krieg und Flucht auf die Psyche eines Menschen aus?Hans-Jürgen Wirth: Es handelt sich dabei um extreme Gewalterfahrungen. Sie können zu psychischen Störungen führen. Die Auswirkungen sind ähnlich anderer schwerer Traumatisierungen, wie bei Naturkatastrophen. Im Fall einer psychosozialen Intervention sind jedoch zwei Dinge zu unterscheiden: Notfallhilfe einerseits und langfristige Bewältigungsmöglichkeiten andererseits. Eine Notfallhilfe gestaltet sich ähnlich wie bei einem schweren überdimensionalen Unfall. Psychologen sprechen vor Ort mit Menschen. Die Bearbeitung der Traumatisierung kann somit früh einsetzen und wäre eine Präventionsmaßnahme. Insofern ist es gut, wenn gleich etwas passiert.
In der Psychologie wird auch immer wieder von Traumata gesprochen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Wie gestaltet sich die Situation für Asylberechtigte, die nicht wieder in ihre Heimat zurückkehren und in Österreich oder Deutschland ihre neue Heimat finden?
In der Vergangenheit gibt es für kollektive Extremtraumatisierungen bereits Beispiele: insbesondere der Holocaust. Dabei kann gesagt werden, dass sich viele schwer traumatisierte Menschen erstaunlich gut in die neue Gesellschaft integriert haben. Sie wurden auch in unterschiedlichsten Berufen sehr erfolgreich. Denken sie beispielsweise an die Überlebenden des Holocaust, die in Amerika sesshaft geworden sind.
Die Gesellschaft reagiert sehr unterschiedlich auf die Flüchtlingskrise: Sie spaltet sich zwischen jenen, die sich für eine Willkommenskultur aussprechen, und jenen, die mit Hass auf die Zuwanderung und Migration reagieren. Warum?
Zuerst einmal ist eine Krise eine Herausforderung und Belastung, der man sich stellen oder zu der man in irgendeiner Form Stellung beziehen muss. Es ist vorerst nicht außergewöhnlich, dass es bei einem derart emotional aufwühlenden Thema - das eine finanzielle, rechtliche und politische Herausforderung ist - zu Polarisierungen kommt. Die Griechenlandkrise wird oft als Vergleich heran gezogen: Auch dort kam es zu einer Polarisierung zwischen hartem Sparkurs und mehr Verständnis und Solidarität.
Und zu den Polarisierungen im Einzelnen...
Bezüglich extremer, von Fremdenhass geprägten Reaktionen meine ich, dass die Krise für diese Gruppe nur ein Anlass ist. Die Fremdenfeindlichkeit war bereits vorhanden: Sie macht sich an etwas Konkretem fest und nutzt die emotional aufwühlende Thematik, um fremdenfeindliche Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Die Flüchtlinge dienen dabei als Sündenbock, auf die eigene Versagensängste und Aggressionen projiziert werden können. Auch kommen Fragen der Gerechtigkeit auf. Menschen, die in Deutschland von Hartz IV leben, tun sich schwer zu verstehen, warum ein Asylberechtigter ebenfalls Leistungen erhält. Auf der anderen Seite finden sich Menschen, die Flüchtlinge mit Gastfreundschaft begegnen. Sie entwickeln Sympathie und Mitgefühl und sind bereit, Flüchtlinge in unsere Gesellschaft aufzunehmen.
Welche psychologische Funktion haben Politiker in einer derartigen Krisensituation?
Sie müssen Unsicherheit und Angst aufnehmen, Sicherheit vermitteln, zeigen, dass ein Problem bewältigbar ist, und mit anderen gemeinsam sinnvolle Lösungen aushandeln.
Zur Person
Hans-Jürgen Wirth
Psychoanalytiker und Professor für psychoanalytische Sozialpsychologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.