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Flüchtlingsdeal schlägt Menschenrechte

Von Martyna Czarnowska

Politik
Der Protest gegen den Ausstieg der Türkei aus der Istanbuler Konvention, die zum Schutz vor Gewalt beitragen soll, trieb Frauen in Istanbul auf die Straße.
© reuters / Umit Bektas

In ihren Beziehungen zur Türkei setzt die EU auf wirtschaftliche Anreize - und stellt Fragen zur Demokratie hintan.


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Laut wollen sie bleiben, ihren Protest nicht abreißen lassen. In der Türkei gehen Frauen auf die Straße, um auf ihr gesetzliches Recht auf Schutz vor Gewalt zu pochen. Studenten wenden sich gegen Versuche, die Autonomie von Universitäten zu untergraben. Oppositionelle protestieren gegen drohende Parteiverbote.

Mit einer Reihe umstrittener Entscheidungen sorgen die türkische Regierung und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan für Unruhe im Land - und auch für internationale Irritationen. Aber wenn am Dienstag EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel zu politischen Gesprächen in die Türkei reisen, wo sie Erdogan treffen wollen, wird das nicht ihr Hauptthema sein. Wie Menschen ihre Unzufriedenheit über die Entwicklungen in dem Land ausdrücken, werden sie wohl auch nicht zu Gesicht bekommen. Die EU will die Beziehungen mit der Türkei verbessern, und da kann Kritik nur verhalten ausfallen.

Die beiden Seiten haben sich in den vergangenen Jahren immer weiter voneinander entfernt. Die Türkei hat dabei nicht den Weg eingeschlagen, den die EU gerne sehen würde.

Der Politologe Cengiz Günay ortet in dem Land eine Abkehr von der Demokratie und das Entstehen einer "neuen Form des Autoritarismus". Global gebe es inzwischen eine Vielzahl an Systemen, die als "hybrid" bezeichnet werden könnten. "Sie befinden sich in einer Grauzone zwischen Demokratie und Autoritarismus, innerhalb der die Türkei immer mehr Richtung Autoritarismus gerückt ist", sagt der stellvertretende wissenschaftliche Leiter des Österreichischen Instituts für internationale Politik (OIIP). Doch auch wenn die Regierung in Ankara den Staatsapparat monopolisiert und die Justiz politisiert habe, laufen formal die demokratischen Prozesse weiter. In ihren Möglichkeiten zwar eingeschränkt, gebe es trotzdem noch immer eine Opposition, Gesetze werden vom Parlament beschlossen, die Zivilgesellschaft sei rege, und es gebe auch wenige oppositionelle Medien.

Mitverantwortung ausgeblendet

Vor allem aber, meint der Politologe: "Wahlen sind zentral für das System und sehr kompetitiv. Sie finden unter unfairen Bedingungen statt, aber die Opposition kann sie unter gewaltigen Kraftanstrengungen auch gewinnen, wie sich in Istanbul und Ankara gezeigt hat." Den zwei Metropolen stehen oppositionelle Bürgermeister vor.

"Die Popularität der Regierung ist im Schwinden; diese kann sich nur mit Hilfe der ultranationalistischen Partei MHP halten", konstatiert Günay. Hinzu komme die wirtschaftliche Krise. Daher müsse Erdogan immer drastischere Maßnahmen setzen, um seine Macht zu halten.

Das Verbotsverfahren gegen die oppositionelle, von Kurden dominierte Partei HDP kann ebenfalls in diesem Zusammenhang gesehen werden. Wird diese Gruppierung ausgeschaltet, werde im Parlament auch die Kritik am wachsenden "militaristischen Nationalismus", wie es Günay formuliert, zum Verstummen gebracht. Denn eine nationalistische Politik, wie grenzüberschreitende Militäroperationen in Syrien, die sich gegen kurdische Gruppen richten, haben andere Parteien - im Gegensatz zur HDP - mitgetragen.

Das laufende Verfahren gegen die HDP, der allzu große Nähe zur als Terrororganisation eingestuften Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen wird, oder der Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention, die unter anderem zum Schutz von Frauen vor Gewalt beitragen soll, sind daher Schritte, die der regierenden AKP vor allem innenpolitisch nutzen sollen. Die Europäische Union, der die Türkei beitreten möchte, nimmt diese Entwicklungen zur Kenntnis, manchmal sogar "mit Sorge", wie es in Deklarationen heißt - doch mehr als leise Ermahnungen folgen nicht daraus.

Dabei trage die EU durchaus Mitverantwortung dafür, dass sie und die Türkei immer mehr auseinanderdriften, betont Günay. "Das wurde ausgeblendet." Die EU habe die Türkei als Beitrittskandidatin abgeschrieben. Ihre Interessen kreisen mittlerweile nicht um Menschenrechte oder demokratische Standards in der Türkei, sondern um zwei Dinge: den Erdgasstreit im Mittelmeer und den Flüchtlingsdeal, den die Union mit Ankara geschlossen hat.

"Die Achillesferse der EU ist die Flüchtlingsfrage", stellt Günay fest. Das wüssten die Länder in der Nachbarschaft, von denen die EU-Staaten erwarten, dass sie Menschen von der Überfahrt nach Europa abhalten. Auf Zusammenarbeit ist die Europäische Union ebenfalls angewiesen, wenn der Zwist zwischen der Türkei, Griechenland und Zypern um die Erkundung und Ausbeutung von Erdgasvorkommen vor der Küste Zyperns gelöst werden soll.

Zollunion und Visafreiheit

Ihre eigene Ambition, in ihrer Nachbarschaft auch Menschenrechte und Demokratie zu stärken, scheint der Union dabei verloren gegangen zu sein. "Die EU hat an Attraktivität verloren: Staaten, die ihr Mitglied werden wollten, haben verstanden, dass dies nicht so bald geschehen wird", erklärt Günay. Auch gebe es mittlerweile andere geopolitisch gewichtige Akteure, die ihren Einfluss in der Region vergrößert haben - ob China, Russland oder Saudi-Arabien. Die neue US-Administration hat aber Interesse daran, dass die EU die Türen zur Türkei nicht zuschlägt.

Allerdings sind die Europäer selbst - sowohl die Mitgliedstaaten als auch die EU-Institutionen - gespalten in ihren Auffassungen, wie gegenüber der Türkei aufzutreten wäre. Dementsprechend allgemein gehalten war das Schlussdokument des virtuellen EU-Gipfels in der Vorwoche, in dem ein Abschnitt dem "östlichen Mittelmeer" gewidmet war.

Die Erklärung enthielt aber auch Zusagen: Sollte die Türkei sich "konstruktiv engagieren", um den Erdgas-Konflikt zu lösen, könnte die "positive Dynamik" verstärkt werden. So stellt Brüssel Ankara eine Ausweitung der Zollunion in Aussicht. Weiters solle die EU-Kommission Möglichkeiten prüfen, wie die Mobilität und "direkte persönliche Kontakte" von Menschen gefördert werden können. Dass Türken ohne Visum in die EU reisen dürfen, fordert Ankara schon seit Jahren. Entscheidungen in diesen Bereichen wurden aber auf Juni verschoben, auf das nächste reguläre EU-Gipfeltreffen.

Die wirtschaftlichen Anreize kommen der Türkei zupass, deren größter Handelspartner die Europäische Union ist. Denn bisher können nicht alle Güter zollfrei in die Gemeinschaft geliefert werden - ausgenommen sind beispielsweise etliche landwirtschaftliche Produkte. Doch eine Modernisierung der Zollunion würde das Land andererseits dazu verpflichten, bestimmte EU-Standards anzunehmen. Unter anderem müssten Regeln zur öffentlichen Beschaffung oder zu Ausschreibungen geändert werden. Eine Anforderung dabei ist Transparenz - etwas, wofür türkische Behörden keinesfalls berühmt sind.