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Flüchtlingsmarsch

Von Kathrin Lauer

Politik

Etwa 600 Flüchtlinge sind aufgebrochen, um die rund 200 Kilometer bis nach Österreich zu Fuß zurück zu legen.


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Budapest. Es ist unvermeidlich, jetzt an 1956 und 1989 zu denken, als Ungarn Schauplatz dramatischer Flüchtlingsbewegungen gen Westen war. Jetzt haben sich Hunderte verzweifelte Menschen aus Syrien, Afghanen, dem Irak und anderen Konfliktgebieten zu Fuß gen Westen aufgemacht, um nach Krieg, Terror und abenteuerlichen  Fluchtwegen endlich zur Ruhe zu kommen. In etwa auf dem gleichen Weg, zum Teil zu Fuß, flohen mehr als 200 000 Ungarn vor 59 Jahren vor stalinistischen Panzern, vor 26 Jahren waren es die DDR-Bürger, die meisten in Trabbis.

Nach tagelangem vergeblichem Warten auf freie Fahrt am Budapester Ostbahnhof, unter menschenunwürdigen Bedingungen, nach all dem Verwirrspiel der ungarischen Behörden um gestoppte und wieder freigegebene Züge, haben sich etwa 600 Flüchtlinge entschlossen, die rund 200 Kilometer bis nach Österreich mit der eigenen Körperkraft zu überwinden. Voran gingen ein Mann mit der EU-Fahne und einen Mann mit Krücken, ihm fehlte ein Unterschenkel. Vermutlich ein Kriegsverletzter. Er trug ein großes Bild von Angela Merkel auf der Brust. Hinter ihnen vor allem junge Männer, aber auch Familien mit kleinen Kindern. Bis wohin die Wanderer am Freitag gelangen würden, ob und wo sie Rast halten, war zunächst unkar.
Parallel tobten Dramen, die einmal mehr die Kopflosigkeit der ungarischen Behörden und Regierenden offenbarte.

Etwa 300 Menschen flohen aus dem Erstregistrierungslager Röszke an der ungarisch-serbischen Grenze. Die Flüchtlinge waren unzufrieden mit den langen Wartezeiten in der eingezäunten Einrichtung. Viele liefen auf die Autobahn, die nach Budapest führt. Einige Dutzend von ihnen habe die Polizei wieder gefasst und in das Lager zurückgebracht, hieß es.

In der Stadt Bicske - knapp 40 Kilometer westlich von Budapest - verbrachten etwa 500 protestierende Flüchtlinge die Nacht zum Freitag in einer Bahn. Sie wehrten sich gegen ihren geplanten Transport in ein Flüchtlingslager. Rund 300 von ihnen brachen am Freitag auf, um entlang der Schienen Richtung Österreich zu laufen.

Ein Toter am Bahnsteig von Bicske

Ein Flüchtling starb am Bahnsteig von Bicske - er war zusammengebrochen und konnten nicht mehr wiederbelebt werden. Die Todesursache war unklar. Der Stress dürfte mitgespielt haben, ebenso die Tatsache, dass die im Zug wartenden Flüchtlinge mehr als 24 Stunden lang demonstrativ das Essen abgelehnt hatten, das ihnen die Polizisten angeboten hatten. Zugleich ließen die Polizisten die Freiwilligen Helfer, die den Flüchtlingen Proviant bringen wollten, nicht an den Zug heran. Ein zweiter Zug mit Flüchtlingen wurde am Donnerstag im Dorf Nagyszentjanos gestoppt. Alle 120 Reisenden wurden in Flüchtlingslager gebracht.

Die nationalkonservative Regierung beeilte sich unterdessen, Flüchtlingen, aber auch Schleppern mit neuen gesetzen das Leben schwer zu machen. Illegaler Grenzübertritt gilt in Ungarn vom 15. September an nicht mehr nur als Ordnungswidrigkeit, sondern als Straftat, für die drei Jahre Gefängnis drohen. Das beschloss das Parlament am Freitag im Eilverfahren auf Initiative des Innenministers Sandor Pinter.

Schlepper sollen mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden. Das zehnteilige Gesetzespaket zur Verhinderung der illegalen Einwanderung beinhaltet auch die Einrichtung von Transitzonen für Flüchtlinge direkt an der Grenze. Sie sollen zur serbischen Seite hin offen sein, auf der ungarischen geschlossen. Die Transitzonen sind als größere Flächen geplant, auf denen sich Flüchtlinge bis zum Ende ihres Asylverfahrens aufhalten dürfen.

Ob der neue Zaun an der serbischen Grenze wie von der rechtskonservativen Regierung geplant auch von Soldaten bewacht werden darf, wurde zunächst nicht entschieden. Die links-liberale Opposition hatte eine Abstimmung darüber unter Berufung auf Formalitäten der Parlaments-Hausordnung verhindern können.
Ministerpräsident Viktor Orban setzte seine Rhetorik gegen Einwanderer fort. Er sprach sich erneut gegen die Einwanderung von Muslimen aus.

Eines Tages würden die Europäer entdecken, dass sie auf dem eigenen Kontinent in der Minderheit seien, sagte der Regierungschef im ungarischen Staatsrundfunk. "Es ist eine Tatsache, dass Europa ein massenhafter Zuzug droht, dass zig Millionen Menschen nach Europa kommen könnten", sagte er, "dann werden wir überrascht feststellen, dass wir nur noch die Minderheit auf unserem eigenen Kontinent sind". Trotz des neuen Zauns an der serbischen Grenze schafften innerhalb der letzten  24 Stunden mehr als 3000 neue Flüchtlinge die Einreise nach Ungarn, erklärte die Polizei. Das waren um tausend mehr als am Tag zuvor.