Erst durch die Medien wurde 9/11 zum kollektiven Trauma. | Veränderung der Medien durch Terrorakte und Krieg.
Wien. Nie wurde im Fernsehen so direkt gestorben wie an 9/11. Das Grauen frei Haus, auf allen Kanälen. Die Einschläge, hundertfach wiederholt. Die Sprünge der verzweifelten Menschen. Die Einstürze. Schlag auf Schlag, Toter um Toter. Die überwiegende Mehrzahl der Menschen auf dieser Erde war beim Weltereignis 9/11 nicht dabei. Dennoch hat sich die Erinnerung ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Indiz: Jeder weiß noch heute, wo er war und was er tat, als es passierte. Als die Welt den Atem anhielt. Als der Fernseher oder das Internet aufgedreht wurde, um beim Sterben live dabei zu sein. Jeder war betroffen und hatte das Gefühl, ganz persönlich dabei zu sein.
Die Welt gleichermaßen vereint wie gebannt vor dem Fernseher - ein zweifelhafter Erfolg für dieses Medium. Das Resultat dieser "Erfolgsgeschichte" ist jedoch ein kollektives Trauma bei den Zusehern, wie etwa der Psychologe Marcel Hartwig in einer Nachbetrachtung feststellte. Ein Trauma, für das die Medien die Verantwortung tragen. Und man müsse lange zurückgehen, um Ähnliches in der Geschichte zu entdecken. Erst in den Vierzigern bei Pearl Harbour wird man fündig, damals noch im Radio.
Dass 9/11 und seine Folgen die Medien beeinflusst haben, darüber besteht kein Zweifel. Dass den TV-Machern ihre Rolle als Verstärker schon damals bewusst war, zeigt etwa, dass die Bilder der Einschläge nach einigen Tagen im Fernsehen deutlich dosierter eingesetzt wurden. Schädlich sind etwa die Endlosschleifen, wie sie im Krisenfall auf Nachrichtensendern üblich sind. Auch diese haben das Trauma verstärkt und standen einer Verdrängung als Reaktion auf das Erlebte im Weg.
Im Bett mit der Armee
Vor allem in den USA haben 9/11 und der folgende "Krieg gegen den Terror" zu einem nie gekannten Schulterschluss geführt, den manche bis zur Gleichschaltung reichen sahen. Die Kriege in Afghanistan und dem Irak, die erstmals den breiten Einsatz von in den Truppen stationierten "embedded journalists" brachte, ist die wohl sichtbarste Veränderung. Das "Live dabei sein", das zwangsläufig zu einer Aufgabe der Unabhängigkeit des Journalisten und dem Verlust jeder Distanz führt, wurde üblich. Fast jedem Medium wurde gestattet, journalistisch "mitzukämpfen" - eine ethische und theoretische Debatte fand nur beschränkt statt.
Ein Indiz für Veränderung der Sichtweise hin zu einer nationaleren Ansicht ist auch die Berichterstattung über das Waterboarding, bei dem ein Häftling einem simulierten Ertrinken ausgesetzt wird, um an Informationen zu kommen. Dieses wurde noch in den 70er und 80er Jahren völlig selbstverständlich zu den Foltermethoden gezählt. Nach 2002 war es damit vorbei. Da wurde es - ganz gemäß dem Wording der US-Regierung - zur "enhanced interrogation technique" (auf Deutsch etwa "forcierte Verhörtechnik"). Laut dem Joan Shorestein Center on Press and Politics nannte nach 2002 sogar die hochseriöse "New York Times" Waterbording in lediglich 2 von 143 Artikeln (oder 1,4 Prozent) explizit "Folter". Wurde die umstrittene Methode jedoch von einem anderen Land als den USA eingesetzt, war das Wording plötzlich anders: Da nannte es die Zeitung in 28 von 33 Artikeln (oder 85,78 Prozent) "Folter". Ob sich die Journalisten dem Druck freiwillig beugten oder es Richtlinien gab, ist unklar.
Eine kaum realisierte indirekte Folge von 9/11 war der Start von etlichen arabischen Nachrichtensendern via Satellit. Al Arabiya startete 2003, Al Jazeera 2006. Der Zeitpunkt der Gründung kann auch als direkte Reaktion auf die wenig reflektierte und sogar von liberalen Muslimen als oftmals viel zu einseitig empfundene 9/11-Berichterstattung gedeutet werden. Daraus, dass eines der Gründungsmotive das bewusste Brechen der westlichen Medien- und Meinungsdominanz war, wurde gar kein Hehl gemacht. Aber auch das Interesse an westlichen Berichten zu arabischen Themen stieg nach 9/11 stark an. Wenn jetzt Amerikaner und Araber gebannt vor dem Fernseher sitzen, sehen sie nicht mehr das Gleiche.