Nato greift Gaddafi-Bunker in Sirte an. | Kämpfe in | Libyen nicht beendet.
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Tripolis. Während Rebellen in Tripolis gegen die letzten Widerstandsnester Gaddafi-treuer Kämpfer vorgehen, mehren sich Berichte über Grausamkeiten, begangen an wehrlosen Gefangenen, Kindern und Unbewaffneten. Ein Reuters-Korrespondent entdeckte im Zentrum von Tripolis die Leichen von über 30 Männern, die offenbar für Gaddafi gekämpft hatten. Alle Körper waren von Kugeln durchsiebt, bei mindestens zwei Leichen waren die Hände hinter den Rücken gefesselt. Ein Toter war an ein Krankenbett geschnallt und hatte noch eine Infusionsnadel im Arm.
Migranten als "Bombe"
Zu Menschenrechtsverletzungen kommt es auf beiden Seiten. Die Verbrechen der Rebellen stehen aber in keiner Relation zu den Grausamkeiten, die das Gaddafi-Regime allein während des Bürgerkriegs begangen hat. Zuletzt wurden in ein zum Leichenschauhaus umfunktioniertes Krankenhaus in Tripolis die Leichen von 17 Zivilisten eingeliefert. Die Männer waren Gefangene in der Gaddafi-Festung Bab al-Aziziya. Als die Rebellen das Gelände stürmten, wurden die Häftlinge von Regimetreuen an die Wand gestellt und hingerichtet. Ein Mann überlebte den Horror und berichtete dem TV-Sender Al Jazeera von den Exekutionen. In einem Spital, das im umkämpften Viertel Abu-Salim liegt, wurden 200 Leichen gefunden.
Amnesty International ist überzeugt, dass das Gaddafi-Regime zuletzt tausende Männer verschleppt hat, darunter viele Unbewaffnete. Einige Freigekommene hätten von Folter, schlechter Behandlung und Hinrichtungen berichtet. Den siegreichen Rebellen wirft Amnesty vor, 125 Gefangene in einer einzigen Zelle einzusperren, ohne dass sich diese dort hinlegen oder bewegen könnten. Ein 14-Jähriger erzählte, ein Rebellenkämpfer habe ihm ins Knie geschossen und anschließend mit Gewehren verprügelt, nachdem er sich zuvor als Freiwilliger für die Gaddafi-Truppen gemeldet hatte. Der Diktator hatte zuvor per Audiobotschaft Frauen und Kinder zu den Waffen gerufen.
In Washington reagiert man angesichts dieser Berichte besorgt. US-Außenministerin Hillary Clinton warnte vor Übergriffen auf Gaddafi-Getreue. In einem neuen Libyen könne es "keinen Platz für Rache und Vergeltung geben". Die Mitglieder der Libyen-Kontaktgruppe forderten die Libyer auf, von Racheakten abzusehen. Mahmoud Jibril, der Chef des Übergangsrats, appellierte an die Kämpfer, Gefangene fair und nach den Regeln der Genfer Konvention zu behandeln.
Italien beschuldigt unterdessen das Gaddafi-Regime, tausende Flüchtlinge in Boote gesetzt und nach Lampedusa geschickt zu haben. "Wir haben Beweise, dass Gaddafi Befehle gab, um Lampedusa zur Hölle zu machen", so Außenminister Franco Frattini. Damit habe Gaddafi Italien bestrafen wollen, weil sich Rom an dem Militäreinsatz gegen sein Regime beteiligte.
Der libysche Botschafter in Italien, Abdulhafed Gaddur, bestätigt die Angaben: "Gaddafi wollte die afrikanischen Migranten als Bombe gegen Italien verwenden. Er sagte, er werde Lampedusa schwarz machen, das heißt mit Afrikanern überschwemmen." Augenzeugen in Libyen bestätigen, dass Gaddafi-Soldaten immer wieder Flüchtlinge mit Gewalt in baufällige Boote und damit in den sicheren Tod getrieben hätten.
Unterdessen haben die Rebellen in Tripolis den Stadtteil Abu Salim weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht. Scharfschützen hatten sich dort verschanzt und auf Rebellen geschossen. Die Bewohner der angrenzenden Bezirke konnten wegen der gefährlichen Lage ihre Wohnungen nicht verlassen. In der Umgebung der von Rebellen gestürmten Gaddafi-Residenz Bab al-Aziziya und im Stadtteil Ghargour gingen am Freitag die Kämpfe weiter. Auch Gaddafis Heimatstadt Sirte ist noch nicht in Händen der Rebellen. Einheiten des flüchtigen Diktators schlugen die von Westen und Osten kommenden Angreifer zurück.
Bunker bombardiert
Britische Kampfjets bombardierten am Freitag Sirte, darunter einen Bunker Gaddafis. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Gaddafi zum Zeitpunkt des Angriffs in dem Bunker gewesen sei, hieß es in einem Bericht der BBC. Man habe sicherstellen wollen, dass es keine andere Befehlszentrale des Regimes außerhalb von Tripolis gibt, so der britische Verteidigungsminister Liam Fox. Er betonte, dass die Kämpfe in Libyen nicht vorbei seien.
In der Tat verfügt Gaddafi in im Inneren des riesigen Wüstenstaates immer noch über loyale Kämpfer. Während die Rebellen nach und nach die Grenzorte zum Tschad, Niger und Sudan unter ihre Kontrolle bekommen, ist die Stadt Sebha umkämpft. Dutzende Rebellen fanden den Tod, als sie das Hauptquartier des Militärgeheimdienstes der Stadt erstürmten.