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Folter und Mord im "Brüder-Heim"

Von WZ-Korrespondent Fabian Kretschmer

Politik

Tausende verwahrloste Kinder und psychisch Kranke wurden ab den 1970ern in Südkorea eingesperrt, Hunderte starben.


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Seoul. Bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul konnte sich Südkorea erstmals im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit präsentieren: als aufstrebende Wirtschaftsmacht, hochmodern und selbstbewusst. Während wütende Studenten ihr Recht auf Demokratie einforderten, leitete der damalige Autokrat Chun Doo-hwan gigantische "Stadtverschönerungen" ein, um das Image des Landes aufzupolieren: Privatautos durften nur jeden zweiten Tag fahren, Hundefleisch-Restaurants wurden vorübergehend geschlossen und mehr als 720.000 Bewohner alter Barackensiedlungen zwangsumgesiedelt.

Wie die monatelange Recherche der Nachrichtenagentur Associated Press nun zeigt, kam es damals auch zu den wohl schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen der südkoreanischen Nachkriegsgeschichte, deren Aufklärung bis heute von der Regierung unterdrückt wird.

Tausende "Vagabunden" wurden damals auf den Straßen verhaftet. Die systematischen Säuberungsaktionen trafen nicht nur Obdachlose, Alkoholiker und psychisch Kranke, sondern zu einem Großteil verwahrloste Kinder. 4000 von ihnen landeten im sogenannten "Brüder-Heim". "Das war keine Wohlfahrtseinrichtung, sondern ein Konzentrationslager", sagt ein damaliger Rechtsanwalt.

Der ehemalige Insasse Choi Seung-woo wurde als 14-Jähriger von einem Polizisten aufgegriffen, weil er ein Stück Brot gestohlen haben soll. Um ein Geständnis zu erzwingen, riss der Beamte dem Jungen an jenem Tag im Jahr 1982 die Hose vom Leib und hielt ein brennendes Feuerzeug an sein Genital. Für die nächsten fünf Jahre wurde Choi im "Brüder-Heim" eingekerkert.

Bereits in seiner ersten Nacht wurde er von einem Wächter vergewaltigt. Am nächsten Morgen sah der Bub, wie eine Insassin mit einem Schlagstock geprügelt wurde, bis Blut aus ihrem Kopf rann. Ein anderes Mal haben die Wärter einen schreienden Mann mit einer blauen Plane bedeckt, zu Boden gestoßen und auf ihn eingetreten. Als die Plane von dem toten Mann abfiel, war nur mehr das Weiß der Augen zu sehen.

Behörden, Betreiber und Polizisten profitierten

Allein laut Angaben der Heimleitung sollen von 1975 bis 1986 insgesamt 513 Insassen gestorben sein. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. In den medizinischen Akten wurde als Todesgrund meist "Herzfehler" oder "allgemeine Schwäche" angegeben. Aus Angst vor Fluchtgefahr sollen Insassen erst in Krankenhäuser gelassen worden sein, als diese bereits halb im Sterben lagen. Ein Zeitzeuge berichtet von einem "Strafvollzugsraum", in dem täglich Inhaftierte zu Tode geprügelt wurden. Die Leichen sollen auf Anordnung des Heimleiters in einem nahegelegenen Waldstück begraben worden sein.

Die Recherchen ergaben, wie diverse staatliche Akteure an dem Heim profitiert haben: Die öffentlichen Behörden waren froh, dass sie einen Platz gefunden hatten, in denen sie die "Vagabunden" unterbringen konnten. Trotz erforderlicher Kontrollmaßnahmen verlängerten sie leichtfertig die Jahresverträge mit dem "Brüder-Heim". Das Heim selbst erhielt Regierungssubventionen je nach Anzahl der Insassen. Die Betreiber sollen daher lokalen Polizisten laut internen Dokumenten dazu angestachelt haben, immer mehr Landstreicher von den Straßen aufzutreiben. Die Polizisten wiederum erhofften sich Beförderungen auf Grundlage ihrer Festnahmen.

Für den Besitzer war das Heim ein hochprofitables Geschäft: Auf dem Gelände sollen die Insassen als weitgehend unbezahlte Arbeitssklaven in 20 Fabriken gearbeitet haben. Dort hergestellte Hemden und Schuhe seien auch nach Europa exportiert worden.

Sobald ausländische Beobachter die Einrichtungen besuchten, wurde das Gros an Insassen weggesperrt, während die besonders gesunden Inhaftierten dazu beordert wurden, den Schein einer funktionierenden Wohlfahrtseinrichtung zu wahren.

Erst Ende der 80er Jahre wurde das Heim nach einer Razzia geschlossen. Einer der Staatsanwälte, die damals darauf drängten, die Ermittlungen einzustellen, dient der jetzigen Regierungspartei noch heute als Berater. Nach direkten Interventionen des damaligen Präsidenten Chun Doo-hwan musste der Heimleiter nicht für die Missbrauchsfälle büßen, sondern lediglich für die Veruntreuung von Millionen an Regierungsgeldern zweieinhalb Jahre Haft absitzen. Seine Familie führte noch bis 2013 weitere Bildungs- und Wohlfahrtseinrichtungen.

Keine Entschuldigung,keine Entschädigung

Den Reportern gelang es nicht, den Heimbetreiber zu einem Gespräch zu bewegen. Wohl aber spürten sie den Bruder seiner Frau auf, der im "Brüder-Heim" als stellvertretender Leiter diente. Seinen einstigen Vorgesetzten beschreibt er als "aufopfernden Sozialarbeiter, der die Straßen der Stadt Busan von Querulanten befreit" habe. Dass es zu tödlichen Schlägereien unter den Insassen gekommen sei, bestreitet der Südkoreaner, der mittlerweile als Pastor in Australien lebt, nicht: "Diese Leute wären ohnehin auf der Straße gestorben."

Während sich Südkorea nun für die Olympischen Winterspiele 2018 in Pyeongchang vorbereitet, haben die ehemaligen Insassen bisher weder finanzielle Entschädigungen erhalten noch eine offizielle Entschuldigung. Versuche eines oppositionellen Abgeordneten, den Fall erneut aufzurollen, werden von der Regierung abgelehnt - mit der Begründung, dass die Ereignisse bereits zu lange zurückliegen. "Sich nur auf einen einzigen Menschenrechtsvorfall zu fokussieren würde die Regierung finanziell belasten und einen negativen Präzedenzfall schaffen", sagte ein Beamter des Innenministeriums.

Ausgerechnet der damalige Militärdiktator Park Chung-hee hat im Jahr 1975 erstmals die Polizisten des Landes dazu angeordnet, die Straßen der Stadt von Landstreichern zu "säubern". Park ist der 1981 ermordete Vater der heutigen Präsidentin Park Geun-hye.

Längst wurde das ehemalige Heim abgerissen. Eine Apartmentsiedlung steht mittlerweile auf dessen Grundstück. In den 90er Jahren entdeckten Bauarbeiter bei Ausgrabungen dort rund Hundert Knochenstücke, eingewickelt in blaue Planen.