AI verweist auf "systematische Misshandlungen" in der Türkei. Die Grünen fordern Botschaftsasyl vor Ort.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien/Ankara. Nach dem gescheiterten Militärputsch ist die Türkei im Ausnahmezustand. Eine Verhaftungswelle rollt über das Land, es gibt Berichte über Folterungen und menschenunwürdige Behandlung. Staatspräsident Recep Tayyip Edogan will die Todesstrafe einführen lassen, das Volk fordere das, sagt er. Der türkische Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci will Putschisten "in Löcher stecken". "Sie werden keine menschliche Stimme mehr hören. ‚Tötet uns‘, werden sie betteln", droht er. 60.000 Beamte, Richter, Soldaten, Lehrer und Journalisten sind von ihrem Dienst enthoben worden. Neben Regierungsgegnern leiden Oppositionelle unter den scharfen Terrorgesetzen. Die Regierung in Ankara beteuert, dass Folter Tabu sei. Doch es gibt Zweifel.
Angesichts dieser Lage wird in Österreich die Forderung laut, politisch Verfolgte aus der Türkei aufzunehmen. Die Türkei gilt in Österreich nicht als sicheres Herkunftsland, allerdings als sicherer Drittstaat. Die EU hat zuletzt ein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei geschlossen. Es sieht im Wesentlichen vor, dass die Türkei alle ins benachbarte Griechenland einreisenden Flüchtlinge zurücknimmt. Für jeden zurückgeschickten Syrer siedelt die EU einen syrischen Asylwerber direkt aus der Türkei in die Union um. Der Gedanke dahinter ist es, die illegalen Einreisen zu beenden. Dazu kommen EU-Finanzhilfen für konkrete Flüchtlingsprojekte in der Türkei.
Grüne üben massive Kritik an Vorgehen Erdogans
Grünen-Chefin Eva Glawischnig sprach sich am Dienstag im Ö1-Mittagjournal gegen die von Ankara massiv geforderte Visafreiheit für alle Türken in Europa aus. Politisch verfolgte Personen sollen "als Flüchtlinge in der Europäischen Union Schutz bekommen". Glawischnig forderte erneut Botschaftsasyl der EU-Staaten vor Ort. Die Grünen wollen so eine Einzelfallprüfung vor Ort möglich machen. Für das Vorgehen Ankaras nach dem Putschversuch fand sie scharfe Worte: Sie sehe die Vorgangsweise des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan "rechtsstaatlich nicht mehr gedeckt", die Entwicklung "äußerst tragisch, man muss sich ernste Sorgen machen" und forderte auch von Außenminister Sebastian Kurz "scharfe Worte" und Konsequenzen.
Österreichs EU-Parlamentarier sprachen sich in Folge mehrheitlich für Asyl für in der Türkei nach dem Putsch politisch Verfolgte aus. SPÖ, Grüne und Neos sind dafür, die ÖVP wendet sich aber gegen einen Automatismus und fordert eine Einzelfallprüfung, während die FPÖ vor den Folgen einer "Einladung" warnt.
SPÖ-Europamandatar Eugen Freund begrüßte von Glawischnig aufgestellte Forderung. Er will eine Resolution des EU-Parlaments. Man sollte "den Druck auf die Türkei erhöhen, dass rechtmäßig vorgegangen wird". Der grüne EU-Parlamentarier Michel Reimon sagte, wie der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan "jetzt in der Türkei aufmischt, ist absolut inakzeptabel". Es würden auch Menschen verfolgt, die mit dem gescheiterten Militärputsch nichts zu tun haben. "Denen man muss man helfen, da muss die EU, die Staaten, Hilfe anbieten. Die Neos-EU-Abgeordnete Angelika Mlinar spricht sich dafür aus, dass nach Genfer Flüchtlingskonvention Schutz angeboten werden müsse. Der ÖVP-Delegationsleiter im Europaparlament, Othmar Karas, sprach sich für eine differenzierte Vorgangsweise aus. "Wer Schutz sucht und schutzbedürftig ist, muss geprüft werden, ob das zurecht besteht. Aber einen Automatismus, eine Generalklausel, kann es generell nicht geben", so Karas FPÖ-Delegationsleiter Harald Vilimsky, fürchtet dagegen eine "Generaleinladung".
Das Innenministerium verweist auf die herrschende Gesetzeslage. "Es gilt das bestehende Asylrecht", und damit die Einzelfallprüfung, so der Sprecher des Innenministeriums, Karl-Heinz Grundböck. Bis zum Tag des Putschversuchs am 15. Juli haben dieses Jahr 166 türkische Staatsbürger in Österreich Asyl beantragt, vier davon wurden positiv erledigt. Seit dem versuchten Putsch gibt es von Seiten des Innenministeriums und vom Vorsitzenden des Vereins Asyl in Not, Michael Genner keine Einschätzung.
Genner sagte gegenüber der "Wiener Zeitung", es sei anzunehmen, "dass nun vermehrt politisch verfolgte, türkische Staatsbürger in die EU und auch nach Österreich flüchten, "und natürlich haben politisch Verfolgte ein Anrecht auf Asyl". Ob es seither vermehrt zu Asylansuchen von türkischen Staatsbürgern gekommen ist , konnte das Innenministerium gegenüber der "Wiener Zeitung" nicht bestätigen. Laut Genner haben bisher hauptsächlich Kurden mit türkischer Staatsbürgerschaft Asyl in Österreich beantragt. Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) meinte im Ö1-Morgenjournal, die Genfer Flüchtlingskonvention gelte für alle Verfolgten, man müsse aber "jeden Einzelfall überprüfen".
FPÖ-Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer warnt vor einem Asyl für türkische Erdogan-Gegner in Österreich und wirft den Grünen vor, damit den innertürkischen Konflikt nach Österreich zu holen. "Nachdem in den vergangenen Jahren mit tatkräftiger Unterstützung der Grünen zigtausende Türken nach Österreich geholt wurden - die meisten davon Erdogan-Anhänger, wollen die Grünen jetzt auch die Erdogan-Gegner nach Österreich holen." Angesichts der Entwicklungen in der Türkei, hin zu einem totalitären Staat, sei das Assoziierungsabkommen ebenso wie die Verleihung von Staatsbürgerschaften an Türken aussetzen, so Hofer.
Erdogan: Westen macht mit Putschisten gemeinsame Sache
Die Beteuerungen Ankaras, dass es in der Türkei keine Fälle von Folter geben, werden angezweifelt. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker meinte zuletzt in Richtung Ankara, Todesstrafe, Folter und willkürliche Verhaftungen hätten "im Strafarsenal der EU" keinen Platz. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) weist auf mögliche Misshandlungen in Polizeigewahrsam hin. Das wird von Präsident Recep Tayyip Erdogan bestritten. Es könnte aber sein, dass manche "während der Tumulte Tritte und Schläge abbekommen haben", so der Präsident.
Österreichs ai-Generalsekretär, Heinz Patzelt, weist die Aussagen des türkischen Staatspräsidenten zurück: "Wie man dermaßen verleugnen kann, was man gerade selbst gezielt anrichtet, erschließt sich mir bei allem Wissen um den Propagandastaat Türkei wirklich nicht mehr", so Patzelt gegenüber der "Wiener Zeitung". "Wirklich entsetzt haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass mittlerweile wieder systematisch gefoltert, misshandelt wird" und erwähnt einen dokumentierten Vorfall, "bei dem ein hochrangiger Armeeoffizier mit einem Gummiknüppel vergewaltigt worden ist."
Amnesty-Experte Andrew Gardner bestätigt unterdessen, dass zahlreiche der zehntausenden Festgenommene unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten werden. Viele Gefangene sind schlichtweg verschwunden, vor allem der Verbleib mutmaßlicher Rädelsführer ist ungewiss.
Unmittelbar nach dem Putsch konnten sich acht türkische Soldaten per Hubschrauber nach Griechenland absetzen. Sie gaben an, beschossen worden zu sein, mit dem Putsch nichts zu tun zu haben und beantragten Asyl. In Griechenland wurden sie wegen illegalen Grenzübertritts verurteilt, die Asylverfahren laufen. Die Türkei fordert die Auslieferung der "Verräter".
Sollte Österreich allerdings Personen Asyl gewähren, die von der Türkei mit dem Putschversuch in Verbindung gebracht werden, würde man das in Ankara mit großem Ingrimm zur Kenntnis nehmen. Auf Anfrage der "Wiener Zeitung" meinte der türkische Botschafter in Wien, Mehmet Hasan Gögus, er glaube, "dass Österreich im Kampf gegen Terroristen und beim Schutz der Demokratie gegen Putsche unser Partner ist". Präsident Erdogan hat der EU zuletzt unverblümt vorgeworfen, sich auf die Seite der Putschisten gestellt zu haben.
Noch hält der Asyldeal mit Ankara, die Rufe nach einem "Plan B" für die EU werden aber von Tag zu Tag lauter.