Vor genau 50 Jahren wurde der Beschluss zur Europäischen Südsternwarte ESO gefasst, die in der chilenischen Atacama-Wüste liegt und mit riesigen Teleskopen den Nachthimmel beobachtet.
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Für die Himmelskundler der alten Welt hat sich das südamerikanische Chile als wahres Eldorado entpuppt. Die Suche nach Gold und anderen Bodenschätzen wäre für sie jedoch bloß ein störendes Ärgernis. Vielmehr gieren die Forscher nach kosmischen "Lichtteilchen". Diese aus dem All eintreffenden Photonen haben oft Reisen von Milliarden Jahren hinter sich und sind bei ihrer Ankunft entsprechend "ausgedünnt". Um den kostbaren Schatz dennoch einzufangen, installiert man in der Atacama-Wüste immer raffiniertere Lichttrichter. Deren Herz sind weit ausladende, nur ganz leicht gewölbte Hohlspiegel. Ihre hoch aufragenden Schutzbauten muten an wie "Kathedralen des Weltalls".
Europäisches Projekt
Im Frühjahr 1953 traf der deutsche Astrophysiker Walter Baade den niederländischen Milchstraßenforscher Jan Oort. Baade hat lange an führenden US-Sternwarten gearbeitet - unter anderem am 2,5-Meter-Teleskop des Mount-Wilson-Observatoriums. Oort und Baade wünschen sich ähnlich leistungsfähige Instrumente für Europa. Wissenschafter wie André Danjon (Paris), Bertil Lindblad (Stockholm) oder Otto Heckmann (Hamburg) teilen ihre Idee. Es gilt, endlich Anschluss an die US-amerikanische Himmelsforschung zu finden.
Eine einzelne europäische Na- tion wäre mit einem solchen Großprojekt überfordert. Daher drängen die Forscher ihre Staaten zur Errichtung einer gemeinsamen Sternwarte. Sie soll fünf Millionen Dollar kosten. Der alte Kontinent eignet sich kaum noch als Standort. Seine rasch wachsenden Metropolen verpesten den Nachthimmel mit ihrer Lichterflut. Außerdem ist das südliche Sternenzelt weniger gründlich erforscht als das nördliche. Man beginnt, Plätze in Südafrika zu erkunden.
Baade erlebt die Verwirklichung seines Traums nicht mehr. Doch zwei Jahre nach seinem Tod unterzeichnen Vertreter aus Belgien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Schweden am 5. Oktober 1962 eine Konvention zur Gründung der Europäischen Südsternwarte: Als Emblem des European Southern Observatory (kurz: "ESO") wird das Sternbild "Kreuz des Südens" gewählt.
Bald scheidet Südafrika aus. Die Bedingungen in der chilenischen Atacama-Wüste versprechen viel, viel mehr. Vor allem der 2400 m hohe La Silla erweist sich als "großer Glücksfall", wie Otto Heckmann, der erste ESO-Generaldirektor, festhält. Künstliche Lichtquellen fehlen, Wolken sieht man selten, die Luft ist äußerst transparent; die atmosphärische Turbulenz hält sich in Grenzen. Die ESO kauft den Bergsattel 1964 und vereinbart mit Chile eine großräumige Schutzzone: Die Umgebung muss unbedingt frei von Bergbau bleiben, um trübenden Staub zu vermeiden.
Anfangs kommt man nur mit Pferd und Helikopter zum Bauplatz. Dann sichert eine Straße die Verbindung zur Panamericana. 1966 fangen die ersten Instrumente das Sternenlicht ein. Sie durchmustern den Südhimmel über La Silla, fotografieren Gala-xien und Himmelsnebel. Dann werden die Fotoplatten gegen CCD-Sensoren getauscht; die gehen viel effizienter mit den kostbaren Photonen um.
1976 wird Europas damals größtes Teleskop montiert. Sein 3,6 m weiter Spiegel beliefert ausgeklügelte Spektralgeräte mit Licht. Die dunklen Linien im Spektrum verraten die chemische Zusammensetzung der Sterne; geringfügige Linienverschiebungen geben Kunde von ihrer Geschwindigkeit. Bald reiht sich auf La Silla eine runde Observatoriumskuppel an die andere. Die kantige Behausung des New Technology Telescope (NTT) sticht heraus: Bis 1989 hat man die nötige Formfestigkeit von Teleskopspiegeln durch besondere Dicke zu erreichen gesucht. Das enorme Gewicht machte schwerste Montierungen erforderlich. Hingegen ist der 3,5 m große Spiegel des NTT nur 24 cm dünn, ganz bewusst leicht und flexibel gehalten. Dafür drücken ihn 75 Stellmotoren an seiner Rückseite zu jeder Zeit in die perfekte Form.
Der zweite Bau
Diese "Aktive Optik" bewährt sich. Daher macht sich die ESO am nordchilenischen Cerro Paranal an den Bau eines zweiten Observatoriums. Es wird 1999 eröffnet und erlaubt fortan Beobachtungen in 2635 m Höhe. So hoch über dem Meeresniveau und bei äußerst trockener Luft können Himmelsobjekte nicht nur im sichtbaren Licht abgebildet werden, sondern auch im nahen und mittleren Infrarot. Die vier silbrig glänzenden Schutzbauten sehen aus wie gestrandete Riesen einer fremden Welt. In jedem dieser Bauwerke harrt ein Teleskop mit 8,2 m Spiegeldurchmesser auf die Nacht. Es trichtert zwei Millionen mal mehr Licht ein als die menschliche Pupille. Die Errichtung dieses Wunderwerks kostete 330 Millionen Euro.
Weil die schweren Teleskope perfekt gelagert und ausbalanciert sind, ließen sie sich sogar mit der Hand bewegen. Doch während der Himmelsbeobachtungen zeigt sich dort niemand mehr. Um jede Beeinflussung zu vermeiden, wird alles vom abgelegenen Kon-trollraum aus gesteuert. Selbst die forschenden Astronomen bleiben meist in Europa. Das Gros der Arbeiten erledigen örtliche Mitarbeiter für sie per Fernauftrag.
Dieses Very Large Telescope (VLT) verwandelt selbst das schwache Licht sehr ferner Galaxien in aussagekräftige Spektren. In unserer eigenen Milchstraße zeigt es Sterne auf ihrer Hetzjagd ums galaktische Zentrum. Wie deren enormes Tempo belegt, muss dort ein Schwarzes Loch von mehreren Millionen Sonnenmassen lauern. Demnächst sieht man ihm beim "Fressen" zu, ist doch gerade eine Wolke aus Wasserstoff und Helium im Anflug. Sie wird von der Anziehungskraft des Lochs arg in die Länge gezogen. Erstmals verfolgen Astronomen diese "Spaghettisierung" mit.
Bildstörungen
Trotz des ausgezeichneten Standorts verzerren unvermeidliche Luftturbulenzen die Lichtwellen. Winzigste Details gehen verloren. Um die vier Riesenteleskope dennoch auszureizen, wird die Bildstörung laufend analysiert. Der Computer leitet daraufhin Gegenmaßnahmen in Echtzeit ein: Ein verformbarer Hilfsspiegel verbiegt sich in atemberaubendem Rhythmus und gleicht so die atmosphärischen Verzerrungen weitgehend aus. Das steigert die praktisch erzielbare Trennschärfe ums 20-Fache. Die für diese "Adaptive Optik" entwickelten Wellenfrontsensoren setzen mittlerweile auch Ärzte ein - zur Vermessung von Abbildungsfehlern des menschlichen Auges.
Leider funktioniert der Trick nur in einem winzig kleinen Bildfeld, in dem außerdem ein heller Referenzstern funkeln muss. Fehlt dieser, knipsen die Techniker ihren roten Speziallaser an. Der feine Strahl schießt in den Himmel und regt, 90 km über Grund, eine Atmosphärenschicht mit Natriumatomen an. So entsteht ein künstliches Referenzgestirn. Letztlich bildet das VLT schärfer ab als das Hubble-Weltraumteleskop. Es musterte z.B. die Vulkane des Jupitermonds Io oder verfolgte das Wetter auf dem Saturntrabanten Titan.
Ergänzt werden die vier VLT-Giganten von ebenso vielen Hilfsteleskopen, die sich auf Schienen bewegen lassen. Jedes dieser Helferlein besitzt einen Spiegeldurchmesser von 1,8 m und übertrifft damit das beste Fernrohr Österreichs an Leistung. Gemeinsam treten die Ensemblemitglieder zu einem besonders pfiffigen Kunststück an: Mehrere von ihnen schicken ihr Licht über ein Heer von Spiegeln in unterirdischen Tunnels ins Interferometrie-Labor. Dort werden die Lichtstrahlen gesammelt und überlagert.
So täuscht man dem Kosmos einen wesentlich größeren Spiegeldurchmesser vor: Er entspricht dem gegenseitigen Abstand der Fernrohre und kann beim VLT bis zu 200 m betragen. Die Trennschärfe steigt somit nochmals ums 25-Fache. Damit ließe sich - rein theoretisch ein LKW auf dem Mond erkennen. Die Astronomen mustern aber lieber die Oberflächen von Riesensonnen, die sich sonst - der enormen Erddistanz wegen - nur als simple Lichtpunkte zeigen. Beim Zusammenschalten dürfen sich die Lauflängen der einzelnen Lichtstrahlen nur um einen Tausendstel Millimeter unterscheiden. Der vielen Spiegelungen wegen gehen die meisten Photonen außerdem verloren. Der Kniff klappt daher nur bei hellen Objekten. Anderswo auf Erden arbeiten Instrumente mit bis zu 10,4 Meter Durchmesser. Dennoch rühmt die 15 Mitgliedsstaaten umfassende ESO ihr VLT als das fortschrittlichste astronomische Teleskop überhaupt.
Für alle ESO-Instrumente werden jährlich rund 2000 Beobachtungsanträge gestellt. Nur ein Fünftel davon akzeptiert man. Täglich erscheinen Fachartikel, die auf ESO-Beobachtungen fußen. Seit dem Beitritt Österreichs im Jahr 2008 stehen die ESO-Geräte auch heimischen Forschern zur Verfügung.
Je tiefer man ins All blickt, desto weiter schaut man zurück in die Vergangenheit. Weil sich die Stärke des Lichts mit dem Qua-drat der Entfernung verliert, erfordern besonders weite Zeitreisen auch außergewöhnlich mächtige Photonentrichter. Deshalb hat die ESO heuer mit dem Bau eines Superinstruments von 39,3 m Spiegeldurchmesser begonnen. Das Extremely Large Telescope (ELT) kostet mehr als eine Milliarde Euro. Damit wird Europa auch in punkto Spiegelgröße wieder die Nase vorne haben.
Christian Pinter, geboren 1959, lebt als Fachautor
in Wien und schreibt astronomische Artikel für die "Wiener Zeitung". www.himmelszelt.at