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Forschung und Sinnfrage

Von Paul R. Tarmann

Reflexionen

Die Debatte zwischen der reduktionistischen Naturwissenschaft und der Philosophie führt meist nicht sehr weit, da es keinen gemeinsamen denkerischen Boden gibt.


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Die Frage nach dem Verhältnis von Naturwissenschaften und Philosophie ruft immer wieder emotionsgeladene Antworten hervor. In der Debatte fällt auf, dass Philosophie und Wissenschaft meist nicht als unterschiedliche Zugänge zur selben Wahrheit, also als Einheit, sondern als grundsätzlich unversöhnliche Gegensätze gedacht werden.

Die Frage nach der wissenschaftlichen Zuständigkeit ist stets aktuell, da die verschiedenen Zugänge zu ein und demselben Thema durch unterschiedliche Hinsichten motiviert und Missverständnisse scheinbar vorprogrammiert sind. Manche Fragen, wie jene nach dem Warum, dem Sinn und damit verbundenen Aufgaben bleiben ausgeklammert. Diese Ausklammerung entspricht der bewussten Entscheidung der Wissenschaften, empirisch vorzugehen und nur den jeweils konkreten Gegenstandsbereich zu untersuchen, weshalb man vom "freiwilligen Reduktionismus" spricht. Diesem ist der Fortschritt in den einzelnen Disziplinen zu verdanken, daher ist er zwar wünschenswert, aber keineswegs zureichend.

Es ist tatsächlich nicht Aufgabe der empirischen Wissenschaften, Grundfragen zu stellen oder gar zu versuchen, diese mithilfe ihrer Methoden zu beantworten. Ein Arzt beispielsweise soll zur Heilung eines konkreten Menschen beitragen. Die Warum-Frage ist im Akutfall genauso fehl am Platz wie die Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen. Diese Fragen könnten sogar tödlich enden, falls ein Arzt in einer Notsituation ganz in Gedanken vertieft seine eigentliche Aufgabe als Lebensretter vernachlässigt.

Interdisziplinäre Arbeit

Wenn er diese Fragen - unter günstigeren Bedingungen - trotzdem stellt, hat er den Aufgabenbereich der ärztlichen Wissenschaft verlassen, wie es Karl Jaspers und Viktor E. Frankl auf je unterschiedliche Weise zeigten. Erst durch das Überwinden des Reduktionismus - des Versuchs der Beantwortung aller Fragen mithilfe einer einzigen Wissenschaft und ihren Methoden - kann gegenseitige Wertschätzung über die Fachgrenzen hinweg entstehen und versucht werden, in interdisziplinärer Arbeit die vielfältigen gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern.

Die Wissenschaften brauchen einander, aber es bedarf auch einer "überwissenschaftlichen" Grundlage, einer gemeinsamen Sicht. Die Schwierigkeiten liegen nicht an den durchaus berechtigten, ja sogar wünschenswerten unterschiedlichen Meinungen bzw. Forschungserträgen zu einzelnen Themen, sondern am meist fehlenden denkerischen Zusammenhang, den die Philosophie zu bringen aufgerufen ist. Diese anerkennt die Ergebnisse der Wissenschaften, sieht aber auch die Notwendigkeit zu interdisziplinärer Vernetzung und lehnt daher - wenn sie ihrem Anspruch entsprechen will - die Reduktionismen ab. Sie geht umfassender vor als die einzelnen Disziplinen und ist deshalb nicht mit den jeweiligen Methoden dieser Disziplinen zu verstehen.

Die Ablehnung des Reduktionismus führt nicht notwendig zu einem in sich konsistenten, widerspruchsfreien Weltbild, das Aufzeigen von Widersprüchen kann aber helfen, Unklarheiten und Missverständnisse auszuräumen. Der "Wissenschaftsaberglaube" bzw. Szientismus mache autoritätshörig, wie Karl Jaspers, dem als Arzt, Psychiater, Psychologen und Philosophen keine Einseitigkeit vorzuwerfen ist, kritisiert: Man wolle eigentlich nicht wissen, sondern gehorchen, weil dies bequemer sei. Dies erinnert an Martin Heideggers bekannten Vorwurf, die Wissenschaft denke nicht.

Der Philosophie geht es nicht nur um einen Überblick und eine Interpretation der unterschiedlichen wissenschaftlichen Ergebnisse, sondern auch um das sich daraus ableitende Sollen, das Gute, um die Moral, die jede menschliche Handlung und somit auch die Forschung auf ihre Motive und Ziele hin prüft: Ist es das alleinige Ziel der Wissenschaft, immer Neues zu erfinden, um in die Medien und zu Geld zu kommen, oder geht es auch um Höheres?

Wissenschaft, die diesen Namen verdient, weil sie sich nicht durch Reduktionismen zurückhalten lässt, wirkt umfassend und hat ein übergeordnetes Ziel, nämlich die sich je nach Situation neu stellende Frage nach dem Guten, dem Gemeinwohl. Es geht um einen Beitrag zu mehr Solidarität und Gerechtigkeit, zur Wahrung der auf die Menschenwürde aufbauenden Menschenrechte, zu Frieden und Ausgleich.

Der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft entspricht eine Einheit von Wissenschaft und Ethik, von Freiheit und Verantwortung. Der Reduktionismus in seinen verschiedenen Ausprägungen bekämpft aber diese Einheit und lässt auch die Frage nach dem ethisch Richtigen, dem Guten, nicht zu. Er bietet daher keine Hilfe in lebenspraktischen Belangen. Die Wissenschaft hingegen ist frei, sie braucht und darf keine Fragen ausklammern, ihre Erwartungshaltung und ihr Ziel sollen aber nicht nur kurzfristig angelegt sein, sondern nachhaltig und verantwortungsbewusst.

Der reduzierte Mensch

Eine alle Fachgrenzen übersteigende Frage ist jene nach dem Menschen. Besonders hier lässt sich der Unterschied zwischen einer verkürzten, reduktionistischen Definition von einer umfassenden, der Lebenserfahrung entsprechenden unterscheiden. So heißt es oft, der Mensch sei "nur" dieses oder jenes, "nichts anderes als" - eine Engführung, die schon Viktor Frankl wiederholt und entschieden ablehnte. Beispielsweise wird gemeint, der Mensch sei nur Materie oder nur Resultat evolutionärer Prozesse bzw. sozio-kultureller Einflüsse. Er ist aber weit mehr als diese Verkürzungen und ist somit, pointiert behauptet, per definitionem undefinierbar. Jede Grenze bestimmt der Mensch durch seine Freiheit selbst, weshalb das typisch "Menschliche", das ihn als solchen auszeichnet, offenbar genau diese Freiheit ist.

Die Philosophietradition des Abendlands verbindet die menschliche Freiheit mit der Möglichkeit, moralisch handeln zu können. Laut Thomas von Aquin bedingen Vernunft und Willen einander, es gibt nichts, was der Freiheit der Entscheidung widerstreitet. Die Freiheit hochhaltend, tätigte Jean-Jacques Rousseau die bekannte Aussage: "Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten." Für Immanuel Kant spielt die Willensfreiheit im Rahmen des Kategorischen Imperativs eine zentrale Rolle, da dieser einen guten Willen voraussetzt. Er akzeptiert nur ein einziges angeborenes, naturrechtlich geltendes Recht: "Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht."

Jean-Paul Sartre meint, es gebe keine feststehende menschliche Natur, der Mensch sei frei, müsse sich erst selbst entwerfen, es gäbe für seine Existenz kein vorgegebenes normatives Wesen. Er habe daher unbegrenzt viele Möglichkeiten und sei verurteilt, frei zu sein. Arnold Gehlen bezeichnet im Anschluss an Nietzsche den Menschen als "noch nicht festgestelltes Tier". Trotz der unterschiedlichen, diesen Aussagen zugrundeliegenden Weltanschauungen ist allen die Betonung der Freiheit des Menschen wichtig.

Die bestrittene Freiheit

Diese Freiheit wurde in jüngerer Vergangenheit erneut Gegenstand einer - mitunter heftig geführten - wissenschaftlichen, vor allem aber medialen Diskussion, wenngleich diese Argumente weit in die Geschichte zurückreichen, man denke nur an Baruch de Spinoza, David Hume oder Arthur Schopenhauer. Es wird behauptet, die Willensfreiheit des Menschen existiere nicht, sein Handeln sei determiniert. Man meine zwar, frei zu entscheiden, diese Überzeugung sei aber eine Illusion.

So spricht beispielsweise Wolf Singer von einer Erschütterung jedes Einzelnen in einem Interview, das den bezeichnenden Titel "Gekränkte Freiheit" trägt. Die Argumentation geht von dem angeblichen Umstand aus, dass das Selbstbewusstsein und die Menschenwürde durch die Neurowissenschaften gekränkt würden.

Ausgangspunkt für plakative und öffentlichkeitswirksame Aussagen wie: "Wir sind determiniert", "Wir haben keinen freien Willen" und: "Die Hirnforschung befreit von Illusionen" sind die aufsehenerregenden Experimente Benjamin Libets, die laut einigen Neurologen nachweisen sollen, dass im Gehirn eines Menschen vor einer Entscheidung schon ein Bereitschaftspotential nachzuweisen sei. Also schon bevor sich der Mensch bewusst für etwas entschließt, seien es Verschaltungen im Gehirn, die die folgenden Handlungen determinieren. So meint etwa Wolfgang Prinz: "Für mich ist unverständlich, dass jemand, der empirische Wissenschaft betreibt, glauben kann, dass freies, also nichtdeterminiertes Handeln denkbar ist."

Es wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass ein vermeintlich freier Wille, der tatsächlich nur das Resultat von zerebralen Aktivitäten ist, ungeahnte Folgen für das Rechts- und das Sozialsystem und damit für die politische Ordnung hätte. Nicht zuletzt bedeutet die Annahme, dass der Mensch unfrei sei, dass er auch nicht im eigentlichen Sinn moralisch handeln kann.

Schwierige Beweislage

Jedoch müssen die Libet-Experimente nicht unbedingt so interpretiert werden. Man kann auch zu anderen Schlüssen kommen, wie z. B., dass das Bereitschaftspotential sich deswegen aufbaut, weil die Teilnehmenden am Experiment ohnehin schon wissen, dass sie bald auf eine ihnen bekannte Weise reagieren sollen. Sie brauchen sich also nicht gemäß ihrem freien Willen für die eine oder die andere Handlung selbst zu entscheiden, sie müssen nur die vorgegebene Aufgabe erfüllen. Immerhin verstand Libet sein Experiment auch anders und ging nicht davon aus, dass damit die menschliche Willensfreiheit bezweifelt werden könnte.

Der Versuch der Leugnung der Existenz von Freiheit hat damit zu tun, dass sie nicht bewiesen werden kann. Karl Jaspers erwartete auch nicht den empirischen Nachweis der Willensfreiheit im Gehirn oder sonstwo im Körper. Dennoch hielt er an der menschlichen Freiheit fest und "erwiderte" den modernen reduktionistischen Hirnforschern (allerdings zeitversetzt einige Jahrzehnte früher) und zeigte damit, dass es sich bei der gegenwärtigen Debatte keineswegs um etwas Neues handelt: "Eine Grunderfahrung des Erkennens lenkt uns auf den Weg: wir können zwar durch keine Forschung, kein wissenschaftlich zwingendes Wissen, keine empirische Untersuchung den Nachweis erbringen, dass es Freiheit gibt - aber wir können auch ihr Nichtsein nicht beweisen. Der Nachweis von Freiheit erfolgt nicht durch ein Wissen, sondern durch die Tat, aber nicht durch irgendeine einmalige Tat, sondern durch das Tun aller Tage, durch die Existenz des einzelnen Menschen, der dadurch erst mit dem anderen in eine echte, freie Gemeinschaft gelangt."

Paul R. Tarmann geboren 1976, ist Philosoph und Sprachwissenschafter. Er arbeitet als Universitätslektor und AHS-Lehrer in Wien.