Zum Hauptinhalt springen

Fortschritt statt Fahne

Von Thomas Seifert

Leitartikel

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Es war ein großer Tag für den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Am Feiertag des Sieges über Nazi-Deutschland besuchte er die Krim und wollte damit wohl auch symbolisieren: Russland ist wieder wer. Während seine Vorgänger Boris Jelzin und Michail Gorbatschow nicht mehr tun konnten, als den Niedergang der Sowjetunion und dann der Russischen Föderation zu verwalten, wohnt in Putins Besuch auf der von Russland annektierten Krim das Versprechen inne, Russland wieder zu Glanz und Glorie zu verhelfen. Eine Welle des Patriotismus schwappt über Russland und das seit 1989 gedemütigte Imperium verspürt erstmals wieder so etwas wie Selbstvertrauen.

Es wäre aber ein Fehler, wenn Wladimir Putin der eigenen Propaganda von Stärke, Macht und wiedergewonnen imperialem Glanz auch glauben würde. Denn Russland ist heute nicht viel mehr als das, was der republikanische US-Senator John McCain wiederholt als "eine als Land getarnte Tankstelle" bezeichnet hatte. Der patriotische Furor, den Putin entfacht hat, soll wohl auch von Russlands Problemen ablenken.

Denn die Wirtschaft ist von kleptokratischen Oligarchen beherrscht, die Industrie bringt kaum konkurrenzfähige Produkte hervor - eine nagelneuer Suchoi Superjet-100 stürzte gleich bei einem Presse-Demonstrationsflug ab - und die soziale Ungleichheit in dem einst kommunistischen Land ist ähnlich groß wie in Singapur oder Kambodscha, während die europäischen Länder beinahe ohne Ausnahme auf den vorderen Plätzen der Liste jener Länder mit der gerechtesten Einkommensverteilung zu finden sind. Die Lebenserwartung eines heute 15-jährigen Jungen in Haiti ist drei Jahre länger als die für seinen gleichaltrigen russischen Altersgenossen.

All diese für Russland beunruhigenden Tatsachen werden in einem Klima des patriotischen Überschwangs, das von Wladiwostok bis Simferopol herrscht, nicht diskutiert. Genauso wenig wie die Tatsache, dass nach der Krim-Annexion selbst Russland früher freundlich gestimmte Nachbarn wie Kasachstan oder Weißrussland Moskau fürchten müssen, Europa sich nach Gas-Liefer-Alternativen umblickt und weiterhin keine Chancen auf das Entstehen einer demokratischen Bürgergesellschaft in Russland bestehen. Putin sollte sich nichts vormachen: Russland braucht Fortschritt und nicht stolz im Wind flatternde Fahnen.