Die Franzosen haben die EU-Verfassung in einer Volksabstimmung mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Zwischen 54,5 und 55,6 Prozent der Wahlberechtigten stimmten mit Nein. Das ergaben Hochrechnungen der drei großen Meinungsforschungsinstitute CSA, Ifop und Sofrest.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Trotz beschwörender Appelle von Politikern auch aus anderen EU-Staaten hatten mehrere Umfragen in den vergangenen Wochen auf eine Ablehnung der Verfassung gedeutet. Kurz vor dem Urnengang hatte sich die Tendenz zum Nein aber wieder abgeschwächt; Experten hatten eine Trendwende in letzter Sekunde nicht ausgeschlossen.
Überraschend war die sehr hohe Wahlbeteiligung von 82 Prozent.
Bei der letzten EU-Volksabstimmung in Frankreich im September 1992 nahmen die Franzosen den Vertrag von Maastricht mit hauchdünner Mehrheit von 51,04 Prozent an und machten damit den Weg für den Euro frei.
Das Scheitern der EU-Verfassung beim Referendum in Frankreich bringt das Land nach Einschätzung von Staatschef Jacques Chirac auf europäischer Ebene in eine "schwierige" Lage. Französische und internationale Kommentatoren fordern Chirac inzwischen auf, die Schuld für die Abstimmungsniederlage auf sich zu nehmen.
Chirac erklärte, das Nein schaffe "schwierige Rahmenbedingungen für die Verteidigung unserer Interessen in Europa", sagte Chirac in einer Fernsehansprache aus dem Pariser Elysée-Palast am Sonntagabend kurz nach Bekanntwerden des Ergebnisses. "Frankreich bleibt natürlich in der Union", fügte Chirac hinzu.
Was nun?
Die EU-Verfassung kann nur in Kraft treten, wenn sie von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union angenommen wird. Neun der 25 EU-Länder stimmten bereits zu, darunter auch Österreich.
Die nächste Volksabstimmung findet am 1. Juni in drei Tagen in den Niederlanden statt. Das Nein der Franzosen dürfte die skeptische Stimmung dort verstärken. Manche Beobachter sehen das Projekt aufgrund der Niederlage bereits als gescheitert an.
Probleme
Die Ablehnung führt zunächst zu einer Reihe von institutionellen Problemen:
- Institutionen: Ohne Verfassung wäre die Reform der Institutionen blockiert, weil der Text dazu in allen 25 EU-Staaten ratifiziert werden muss. Damit könnten etwa der auf mehr Effizienz zielende Abstimmungsmodus und die Stärkung des Europaparlaments einstweilen nicht wirksam werden.
- Finanzen: Die ohnehin schwierige Entscheidung über die EU-Budgets der Jahre 2007 bis 2013 würde weiter erschwert. Kommt es beim Juni-Gipfel nicht zu einer Einigung, könnten sich Struktur- und Forschungsprogramme verzögern. Die EU-Politikplanung verlöre ein Jahr.
- Erweiterung: Trotz gegenteiliger Beteuerungen könnte auch der Start der Beitrittsgespräche der Türkei im Oktober in Frage gestellt werden, gegen die es in Frankreich Vorbehalte gibt.
- Psychologie: Die Ablehnung der Verfassung im EU-Gründerstaat Frankreich wäre ein herber Rückschlag für die Bemühungen, die Bürger und Politiker Europas stärker für das Projekt der europäischen Einigung zu begeistern.
Auswege
- Der einstige Chef des EU-Reformkonventes, Valery Giscard d'Estaing, hate bereits im Vorfeld erklärt, bei einer Ablehnung würden die Franzosen wohl im Herbst 2006 noch einmal über denselben Text abstimmen.
- Dazu müssten freilich die Abstimmungen in anderen Staaten positiv ausgehen. Ausnahmeregeln von der Verfassung als Anreize für Frankreich gelten als ausgeschlossen, da ihnen alle anderen 24 Staaten zustimmen müssten. Denkbar wären Protokollerklärungen zu für Frankreich besonders wichtigen Fragen oder ein Verzicht auf strittige EU-Vorhaben.
- Vorziehen von Verfassungsteilen: Solange die Verfassung nicht in Kraft tritt, gilt weiter der EU-Vertrag von Nizza mit seinen sperrigen Regelungen. Ob man bei einem Scheitern der Verfassung in Frankreich einzelne ihrer Regelungen vorziehen und durch einen Beschluss der EU-Regierungschefs in Kraft setzen kann, ist umstritten. Auch ist fraglich, ob es dafür die nötige Einstimmigkeit gäbe. EU-Experten verweisen darauf, dass die Verfassung ein kompliziert ausgehandeltes Paket darstellt, bei dem jedes Land Zugeständnisse gemacht hat. Ein teilweises In-Kraft-Setzen könnte dieses Gleichgewicht verändern
- Kerngruppen: In den Verhandlungen über die Verfassung war für den Fall eines Scheiterns immer wieder ein Auseinanderfallen der EU in ein Kerneuropa als Schreckensszenario dargestellt worden. Doch ein Kern ohne Frankreich gilt bei EU-Vertretern als nicht denkbar.
Französische Opposition fordert Chiracs Rücktritt
Mehrere Oppositionspolitikerhaben den Rücktritt von Staatspräsident Jacques Chirac gefordert. Der ehemalige sozialistische Kulturminister Jack Lang sagte am Sonntagabend im Sender TF-1, das Referendum habe die Wut der Franzosen gegen die Sozialpolitik Chiracs und seiner konservativen Regierung zum Ausdruck gebracht.
Europa sei das Opfer geworden, sagte Lang. Die Franzosen hätten Chirac am Sonntag gesagt: "Zehn Jahre sind genug."
Der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen sprach von einem "Bruch mit dem Europa Brüssels". Chirac müsse sein Amt aufgeben.
Der Kommunist Robert Hue nannte das Ergebnis eine "Zurückweisung des liberalen Projekts".