In Frankreich ist die Stimmung vor dem Referendum über die EU-Verfassung am Sonntag aufgeheizt. Der Ausgang ist offen. In den Umfragen liegen die "Nein"-Sager zwar beständig vorne. Fast ein Drittel der Franzosen ist aber noch unentschlossen. Verlieren dürften jedenfalls die Spitzen der großen politischen Parteien.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die Anti-Verfassungs-Kampagne ist allgegenwärtig. Als Denkzettel gegen die Regierung von Präsident Jacques Chirac und seinen Premier Jean-Pierre Raffarin müsse Nein gesagt werden. Nur so könne der neoliberalen Politik Einhalt geboten werden, argumentieren die Linken. Nur mit einem Nein könne man den EU-Beitritt der Türkei aufhalten, setzen die Ultra-Rechten unter Jean-Marie Le Pen auf die Angst vor Fremden. Beflügelt werden die Verfassungsgegner von einem Umfragen-Stakkato, welches ihnen zuletzt stabile 53 bis 54 Prozent attestierte.
Dem tritt die konservative Regierung mit der Beschwörung eines Gesichtsverlusts der Grande Nation bei einem Nein entgegen. Gemeinsam mit dem größeren Teil der sozialistischen Opposition versucht sie die immer noch 30 Prozent der unentschlossenen Wähler auf den tatsächlichen Gegenstand der Abstimmung zu besinnen.
Bei seinem letzten großen Fernsehauftritt vor dem Referendum warnte Raffarin am Mittwoch erneut eindringlich vor einer Lähmung der EU und Chaos bei einer Ablehnung. Die Regierungsarbeit werde fortgesetzt, egal wer Chiracs Premier sei, spielte er auf seinen wahrscheinlichen Rücktritt nach Sonntag an. Chirac selbst hat seine Demission zwar ausgeschlossen. Bei einer Niederlage würde er jedoch bei der nächsten Wahl 2007 als politisch gebrochener Mann abtreten. Beide haben in den Umfragen eine rasante Talfahrt hinter sich. 60 Prozent sind mit Chirac unzufrieden, gar 74 Prozent mit Raffarin. Offensichtlich wurde die Panik, als etwa der Präsident jüngst den verblüfften Mitgliedern des französischen Armenierverbands erklärte, nur die Verfassung könne den Beitritt der Türkei stoppen.
Gespaltene Sozialisten
"Europa kann es nicht verstehen, dass Frankreich mit Nein abstimmt, weil eine ungerechte und idiotische Regierung den Pfingstmontag als Feiertag abgeschafft hat", appellierte Sozialisten-Chef Francois Hollande. Die Feiertagsentscheidung hatte die Anfang Mai Fuß fassende Ja-Kampagne gebremst, in die der populäre sozialistische Ex-Premier Lionel Jospin gerade eingestiegen war.
Zumindest ist es Chirac gelungen, die Sozialisten zu spalten. Gewichtigster Wortführer der Verfassungsgegner ist Hollandes Vize, Altpremier Laurent Fabius. Sanktionen gegen Beschäftigungslose, eine Anhebung der Gastarife, ein Abbau bei den öffentlichen Bediensteten sowie eine "Neuauflage" der EU-Richtlinie zur Liberalisierung der Dienstleistungen, werde die Regierung bei einem Ja umgehend einleiten, behauptet Fabius. Dies fällt in einem Frankreich mit zehn Prozent Arbeitslosenquote auf fruchtbaren Boden.