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Frankreich legt sich mit Türkei an

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Ankara droht mit wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen.


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Paris/Ankara. Der türkische Botschafter war schnell abgezogen. Nur wenige Stunden nach der Abstimmung in der französischen Nationalversammlung über die Massaker an Armeniern im Osmanischen Reich berief Ankara seinen Vertreter in Paris ab - aus Protest gegen das Votum. Dieses fiel nämlich zugunsten eines Gesetzesentwurfes aus, der die Ereignisse von 1915 bis 1917 als Völkermord bezeichnet. Und wer dies leugnet, soll - ähnlich wie beim Abstreiten des Holocaust - bestraft werden: mit bis zu einem Jahr Haft und Geldbußen von höchstens 45.000 Euro. Dem Gesetzestext muss noch der französische Senat zustimmen.

Die offizielle Türkei lehnt den Begriff Genozid strikt ab: Sie spricht vom Kriegsgeschehen, in dessen Folge bis zu 500.000 Menschen umgekommen sind. Die Armenier jedoch berichten von 1,5 Millionen Ermordeten, die bei Massakern und Vertreibungen in die Wüste den Tod fanden. Dies wird auch von zahlreichen Historikern - und ebenso Regierungen - in unterschiedlichen Ländern gestützt. In der Türkei leben jedenfalls mittlerweile nur noch an die 60.000 Armenier. Die Diaspora hingegen ist auf der ganzen Welt verstreut: Nicht einmal ein Drittel der rund zehn Millionen Armenier wohnt in Armenien selbst. Schätzungsweise eine halbe Million lebt in Frankreich. Und um sich ihre Stimmen zu sichern, heizen französische Politiker vor allem in Vorwahlzeiten die Debatte um den Völkermord an. So lautet zumindest der Vorwurf aus Ankara.

Druckmittel Handel

Der Abzug des türkischen Botschafters aus Frankreich könnte erst der Anfang schwerer diplomatischer Verstimmungen zwischen den beiden Ländern sein. Schon im Vorfeld der Abstimmung hat Ankara Paris nämlich politische und wirtschaftliche Konsequenzen angedroht. Diese würden "schrittweise" erfolgen, kündigte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan an. Als "Angriff auf die Geschichte der Türkei" bezeichnete Außenminister Ahmet Davutoglu den französischen Gesetzesentwurf.

Schon vor zehn Jahren löste das Parlament in Paris mit einer Initiative zur Anerkennung des Völkermords Proteste in Ankara aus. Allerdings könnte sich die Türkei nun mit ihrem gestärkten politischen und wirtschaftlichen Selbstbewusstsein viel freier fühlen, den Drohgebärden auch Taten folgen zu lassen. Auf EU-politischer Ebene hat sie nämlich nicht mehr so viel zu verlieren: Die Beitrittsverhandlungen mit der Union sind sowieso schon zum Stillstand gekommen, und sein außenpolitisches Interesse hat Ankara ohnehin in den vergangenen Jahren auch den östlichen Nachbarn zugewandt.

Ökonomisch ist das Land ebenfalls viel stärker als noch vor zehn Jahren - wovon auch Frankreich profitiert. Dieses ist zum fünftgrößten Exportmarkt für die Türkei geworden und steht an sechster Stelle bei den Importen. Hunderte französische Firmen sind in der Türkei tätig. Einen staatlich verordneten Boykott französischer Waren wird es daher nicht geben. Doch könnten die türkischen Konsumenten sehr wohl ihre Präferenzen überdenken, suggerierte bereits Industrieminister Nihat Ergün.

Bewegung in Debatte

Jedoch hat sich in der Debatte um die Armenier in der türkischen Öffentlichkeit - vor allem in der Zivilgesellschaft - in den vergangenen Jahren einiges bewegt. Die Kontakte auf Expertenebene oder zwischen diversen Nichtregierungsorganisationen der Nachbarstaaten sind weit enger und häufiger geworden als zwischen den Politikern. Die Türkei hält ihre Grenze zu Armenien zwar noch immer geschlossen, und die vor mehr als zwei Jahren angekündigte politische Öffnung ist noch immer nicht erfolgt. Doch behindert dies persönliche und wirtschaftliche Beziehungen nicht völlig, sondern erschwert sie nur.

Für die offizielle Türkei wiederum geht es um mehr als die Aufarbeitung ihrer Geschichte. Sollte sie die Ereignisse von damals als Völkermord anerkennen, könnten ihr heute massive wirtschaftliche Konsequenzen drohen: in Form von Schadenersatzforderungen oder Klagen auf Rückgabe von Grundbesitz.