Experte sagt dem Land | dauerhafte Stagnation voraus.
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Paris. "Sehr geehrter Herr Präsident der Republik", beginnt ein in mehreren Medien veröffentlichter Brief, der Anfang Mai für Aufsehen in Frankreich gesorgt hat. "Zunächst stelle ich mich vor: Clara G., 20 Jahre alt, Geschichts-Studentin im zweiten Jahr an der Sorbonne. Wenn ich Ihnen schreibe, dann um Ihnen zu erklären, warum ich mein Leben woanders als in Frankreich verbringen möchte. Wie übrigens eine Mehrheit der jungen Franzosen, wenn man einer im April veröffentlichten Umfrage glaubt."
Clara G. schreibt, sie "fliehe", denn sie habe keine Lust, ihr Leben lang zu arbeiten, um Steuern zu zahlen, die nicht investiert, sondern in die ihrer Generation "liebenswürdigerweise" hinterlassenen Schulden in Höhe von 1900 Milliarden Euro gesteckt würden. Der Ökonom Patrick Artus sehe angesichts des schwachen Wirtschaftswachstums und der Alterung der Gesellschaft in Frankreich eine dauerhafte Stagnation der Kaufkraft ihrer Generation während ihres gesamten Berufslebens voraus.
Clara G. erklärt, sie fürchte, nach ihren schönen, aber "nutzlosen" Diplomen Phasen der Arbeitslosigkeit und befristete Anstellungen aneinanderzureihen. Lieber gehe sie nach Kanada, Australien oder Deutschland, ein Land mit offenbar gesundem Selbstvertrauen. Und falls Präsident Holland ihr Egoismus vorwerfe: "Mein Egoismus ist nichts im Vergleich zu dem Ihren und dem Ihrer Vorgänger, die unsere Generation geopfert haben, indem sie öffentliche Gelder verschwendeten, um keine schwierigen Entscheidungen treffen zu müssen", schließt die junge Frau ihre erbitterte Anklage, für die sie großes Echo erntete.
Denn die 20-Jährige sprach aus, was viele ihrer Gleichaltrigen denken. Nur ein gutes Jahr, nachdem François Hollande als Präsident angetreten ist, hat er sie enttäuscht. Er wolle aus der Jugend eine Priorität machen, hatte er angekündigt und während fast alle Ressorts sparen müssen, wird in Bildung und Ausbildung investiert mit der Einstellung von Zehntausenden neuen Lehrern. Staatlich subventionierte Jobs sollen die hohe Jugendarbeitslosigkeit von 26 Prozent bremsen.
Junge Akademiker
drängen ins Ausland
Doch die Jugend überzeugt Hollande genauso wenig wie die übrige Gesellschaft, bei der seine Beliebtheitswerte auf einem Tiefstand verharren: Nicht einmal jeder Dritte vertraut ihm noch. Die depressive Stimmung eines Landes, das kaum mehr an sich und seine Zukunft glaubt, hat auch die Generation erfasst, der diese Zukunft doch eigentlich zu Füßen liegt. In einer Umfrage gaben 27 Prozent der jungen Akademiker an, im Ausland arbeiten zu wollen, fast doppelt so viele wie noch 2012. Die größte Gruppe der Auswanderer in Frankreich sind Akademiker unter 40. Meist treibt sie weniger Abenteuerlust, sondern ähnlich wie Clara G. ein konkreter Fluchtgedanke. Auch wenn es sich um keinen massiven Exodus handelt - Frankreich, ein historisches Zuwanderungsland und Traumziel vieler Menschen, verliert an Attraktivität für seine eigenen Einwohner.
In seinem Umfeld kenne er viele Leute, die Frankreich verlassen wollen, da es ihnen zu wenige Chancen biete, bestätigt der 24-jährige Marc-Alexis Dufour, Absolvent einer Handelsschule und momentan Praktikant in einem IT-Unternehmen in Paris. "Viele sind das System leid und denken, anderswo sei alles besser: die Jobaussichten, die Bezahlung, die Stimmung allgemein." Auch Marc-Alexis selbst schätzt die Perspektiven in Frankreich als "nicht einfach" ein. "Aber ich bleibe und versuche lieber, die Dinge hier zu verbessern." Denn er liebe sein Land und alles sei nicht schlecht. Ist er eine Ausnahme?
"Frankreich bringt die Jugend nicht mehr zum Träumen", schreibt der Soziologe Olivier Galland in einem Beitrag für die Zeitung "Le Monde". Ihm zufolge zeigen Untersuchungen die jungen Franzosen extrem pessimistisch, was die aktuelle Lage betrifft und die Perspektiven ihres Landes, aber zuversichtlich hinsichtlich ihrer persönlichen Zukunft und ihrer Fähigkeit, etwas aus sich zu machen.
Vor allem müsse man unterscheiden zwischen den jungen Akademikern, die sich längst an das globalisierte System angepasst haben, für die Arbeiten ohne Grenzen eine Selbstverständlichkeit sei und die Jobs finden - und den gering oder gar nicht Qualifizierten, die am stärksten unter den Folgen der Wirtschaftskrise leiden.
Frühe Auslese in wenig durchlässigem System
Oft bleiben sie jahrelang abgeschnitten von der Berufswelt oder hangeln sich von einem befristeten Vertrag zum nächsten. Wer keinen guten Schul- und Studienabschluss vorweisen kann, dem sind viele Wege versperrt in Frankreich, wo ein duales Ausbildungssystem wenig verbreitet und eine Berufsausbildung schlecht angesehen ist, ja als Merkmal für schulisches Scheitern gilt.
Schreibt sich das Land aus seiner Geschichtstradition heraus das Ideal der Gleichheit aller auf die Fahnen, so findet in der Realität eine sehr frühe Auslese statt. Soziale, aber auch geografische Herkunft entscheidet über den späteren schulischen und beruflichen Erfolg in einem wenig durchlässigen System.
Während sich die Elite reproduziert, die ihre Kinder auf die besten Gymnasien schickt, die dann in die renommierten Elitehochschulen führen, und sich die Mittelschicht durchhangelt, befinden sich auf der anderen Seite der sozialen Leiter diejenigen, die schon durch ihren Wohnort vorgeprägt sind: Wer im nordöstlich an die Hauptstadt-Region angrenzenden Département Seine-Saint-Denis wohnt, hat statistisch gesehen eine nur halb so große Chance wie andere, zu einem Bewerbungsgespräch überhaupt eingeladen zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass er aus einer Einwanderer-Familie mit geringem Einkommen stammt, ist dagegen umso größer.
In vielen dieser Vorstädte von Paris, "Banlieue" genannt, liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei mehr als 40 Prozent. Das daraus resultierende Gefühl des Ausgeschlossenseins und der Perspektivenlosigkeit fand ein Ventil im Herbst 2005 und erneut 2007 in Straßen-Schlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei. Von diesen sozialen Brennpunkten ausgehend, erfassten die Krawalle das ganze Land. Auch heute warnen Lokalpolitiker, die Lage habe sich kaum gebessert und das Pulverfass könne jederzeit wieder hochgehen. Die Regierung versucht gegenzusteuern, doch Ergebnisse zeigen sich, wenn überhaupt, nur langsam.
Angesichts so vieler Probleme wegzugehen, wie Clara G. es vorhat, sei vielleicht gut, meint Marc-Alexis Dufour. "Und sei es nur, um zu sehen, dass es auch anderswo nicht perfekt ist. Oder um bei anderen zu lernen, was besser gemacht werden kann - und zurückzukommen."