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Frankreichs Wirtschaft und Eurokrise lassen wenig Raum für eine radikale Politwende

Von Hermann Sileitsch

Europaarchiv

Differenzen Berlin-Paris sind oft größer als zwischen Sarkozy und Hollande.


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Paris/Berlin. Zwei Welten prallen aufeinander. Und das nicht erst, falls sich Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel mit einem EU-Tandempartner namens François Hollande anfreunden müsste. Die Wirtschaftspolitik, wie sie in Berlin und in Paris gepflogen wird, könnte unterschiedlicher nicht sein - unabhängig davon, ob in Paris ein Gaullist oder Sozialist am Ruder sitzt. Man kann es Etatismus oder Staatsinterventionismus nennen: In Frankreich wird ein Staat, der tief in die Mechanismen des Marktes eingreift, nicht nur geduldet, sondern gewünscht. Nicht umsonst absolvierte Sarkozy seinen letzten Wählerfang-Auftritt vor überdimensionalen Screens mit dem Slogan "La France forte".

Deutsche Regelgläubigkeit

Da mag Sarkozy in seiner Heimat noch so sehr der Ruf des Präsidenten der Reichen und Unternehmer anhaften: Aus deutscher Perspektive steht Frankreichs Rechte wirtschaftspolitisch weit links. Wann immer es um Schlüsselindustrien geht - ob Energieversorger wie Suez oder der Flugzeugbauer EADS -, mutierte auch der wirtschaftsliberale Sarkozy zum Interventionisten. Oder zum protektionistischen Hüter der eigenen Großkonzerne.

Die Staatsquote (der Anteil der Staatsausgaben an der Wirtschaftsleistung) liegt mit 57,1 Prozent so hoch wie in den letzten drei Jahrzehnten nicht (Grafik) - und das unter einem konservativen Staatsoberhaupt.

In Großbritannien ruft ein mächtiger Staat sofort monströse Assoziationen hervor; Hobbes’ "Leviathan" lässt grüßen. In Deutschland ist die Stimmungslage gegenüber einem starken Gemeinwesen ambivalenter. Die Staatsquote ist auch traditionell hoch, das Selbstverständnis aber anders als in Paris: In der deutschen Vorstellung von Ordnungspolitik gibt der Staat Leitlinien vor, an die sich das Marktgeschehen halten soll. Deshalb das Berliner Faible für Regeln.

Es ist wohl Zufall, aber Sarkozys Slogan "France forte" lässt an Frankfurt denken, den Sitz der Europäischen Zentralbank. Nirgends zeigen sich die deutsch-französischen Differenzen deutlicher als in der Geldpolitik. In Paris kann der noch amtierende Präsident als Verteidiger eines starken Euro gegen eine sozialistische "Aufweichung" auftreten. Da wird es nicht als widersprüchlich empfunden, wenn Sarkozy zugleich von der EZB verlangt, mehr für das Wachstum zu tun. In Berlin hingegen, wo man sich in bester Bundesbank-Tradition einzig der Preisstabilität verpflichtet sieht, werden gerade solche Aussagen als massive Gefährdung eines stabilen Euro verstanden.

Die Krise als treibende Kraft

Zu allen großen Projekten - Eurorettungsschirme, koordinierte Wirtschaftspolitik, Fiskalpakt - wurde "Merkozy" (Merkel-Sarkozy) durch die Krise gezwungen. Das hat inhaltliche Divergenzen übertüncht. Die Zuspitzung erforderte von beiden Seiten, weit über ihren Schatten zu springen.

So wird es die nächsten Jahre bleiben - ganz gleich, ob der Präsident Hollande oder Sarkozy heißt. Die Wirtschaftslage und der Druck der Finanzmärkte setzen der Realpolitik enge Spielräume. Für eine stramme Linkswende und Experimente wie zu Beginn der Ära Mitterrand wird Hollande deshalb kaum Spielraum haben. Eine Abkehr vom Bekenntnis zur Budgetdisziplin oder Aufschnüren des Fiskalpaktes würde von den Märkten umgehend bestraft.

Diese werten Frankreich schon jetzt nach Spanien und Italien als nächstes Euro-Schwergewicht, das ins Wanken kommen könnte.

Die Herausforderungen sind groß: Die fünftgrößte Volkswirtschaft fällt weit hinter Deutschland zurück. So wie Österreich verlor Frankreich bei der Ratingagentur Standard & Poor’s im Jänner 2012 seine Bestnote AAA und wurde auf AA+ abgestuft. Der Schuldenberg türmt sich auf 1,7 Billionen Euro, das steigende Leistungsbilanzdefizit setzt den Staatshaushalt weiter unter Druck. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 10 Prozent - hoch wie seit eineinhalb Jahrzehnten nicht. Und die Industrie kämpft darum, den Anschluss an die Weltspitze nicht zu verlieren. Den Autobauern PSA Peugeot Citroën und Renault musste der Staat 2009 unter die Arme greifen.

So sehr Frankreichs Linke auf eine Wiederkehr von 1981 hoffen mag, als der sozialistische François Mitterrand in den ersten Jahren seiner Amtszeit Konzerne und Banken verstaatlichen ließ, die Arbeitszeit verkürzte und Mindestlöhne, Pensionen und Familienbeihilfen erhöhte: Wachstum lässt sich nicht verordnen. Somit erinnert die Lage 2012 eher an 1984: Da zerbrach die Koalition von Premier Pierre Mauroy mit den Kommunisten über schlechten Wirtschaftsdaten - der neu bestellte Regierungschef Laurent Fabius und Finanzminister Jacques Delors verstärkte den Europakurs - und musste eine strenge Sparpolitik fahren.

Historisch war es ohnehin eher die Ausnahme als die Regel, dass - so wie "Merkozy" - diesseits und jenseits des Rheins Staatsoberhäupter und Regierungschefs am Ruder waren, die derselben politischen Fraktion angehörten. Gerade die "gemischten" Polit-Duos waren jene starken Achsen, die Europa vorwärts brachten.

Einem Präsidenten Hollande könnte dabei zugute kommen, dass Europas nächste Schritte zu den Inhalten seines Wahlprogramms passen werden. Nachdem Frankreich dem (von Berlin diktierten) Fiskalpakt zur Budgetdisziplin zustimmen musste, wird der Europa-Zug nun krisenbedingt in Richtung Wachstumsinitiativen, Eurobonds, Vermögens- und Finanztransaktionssteuern weiterdampfen: alles Themen, die sich Hollande gut auf seine Fahnen heften könnte.