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Caritas-Präsident Franz Küberl und Böhler-Uddeholm-Chef Claus Raidl im Streitgespräch über die katholische Soziallehre, Ethik, Steuern und das Grundeinkommen.
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Wiener Zeitung: Herr Küberl, vollenden Sie bitte den Satz: "Sozial gerecht ist, wenn ..."Franz Küberl: . . . wenn alle Menschen vergleichbare Zukunftschancen haben.
Und was ist für Sie, Her Raidl, sozial gerecht?
Claus Raidl: Es ist eine Illusion zu glauben, dass es so etwas wie soziale Gerechtigkeit gibt. Es gibt keinen gerechten Lohn, kein gerechtes Einkommen: das ist die Folge von Marktprozessen. Soziale Gerechtigkeit ist immer relativ. Worum es mir geht, ist eine Einkommensverteilung, die jedem Menschen die Chance gibt, sein Leben ohne materielle Ängste leben zu können.
Das klingt fast so, als ob Sie beide nahe beieinander liegen: Hier ein Leben ohne materielle Ängste, da das Ziel vergleichbarer Zukunftschancen.
Raidl: Ich wehre mich allerdings dagegen, wenn Vertreter von Parteien oder der katholischen Kirche so tun, als ob es so etwas wie gerechten Lohn oder eine soziale Gesellschaft gäbe. Es gibt nichts absolut Gerechtes - und alle Versuche der katholischen Soziallehre, dies zu bewerkstelligen, sind fehlgeschlagen.
Küberl: Auch für die Kirche ist unbestritten, dass die Diskussion um soziale Gerechtigkeit immer auch die Prise einer Vision, wie eine Gesellschaft gestaltet sein soll, in sich trägt. Entscheidend ist, dass man in einer konkreten Gesellschaft mit konkreten Problemen dieser Vision näher kommt. Die Güter der Schöpfung sind prinzipiell für alle da. Allerdings müssen wir Sorge tragen, dass die Menschen auch tatsächlich ihren Lebensunterhalt mit diesen Gütern bestreiten können. Mein Ziel von sozialer Gerechtigkeit ist es nicht, dass es nur ein Lohnsystem gibt; aber wir müssen darauf achten, dass möglichst wenige Menschen - im Idealfall gar keine - finanziell zurückfallen. Für Österreich ist das ein lösbares Problem, im globalen Maßstab gibt es freilich gewaltige Schwierigkeiten. Klar ist aber: Solidarität braucht auch Starke, wir können nicht davon leben, dass alle schwach sind.
Raidl: Noch einmal zum Grundsätzlichen: Eine Gesellschaft kann etwas für vertretbar halten, was in einer anderen nicht akzeptiert würde. Mich ärgert, dass alle diese Appelle an soziale Gerechtigkeit den Eindruck erwecken, als ob es so eine Illusion in einem späteren Leben hier auf Erden tatsächlich geben könnte. Ich persönlich halte es da lieber mit Karl Popper, der gesagt hat, die Aufgabe müsse es sein, nicht die Menschen auf irgendeine spätere Gesellschaft zu vertrösten, sondern - und jetzt kommt der Schlüsselsatz - jedem Menschen die Chance auf ein bisschen Glück schon zu seinen Lebzeiten zu geben. Darauf hat er ein Anrecht. Das ist ein völlig anderer Ansatz, als ihn linke Ideologien verfolgen, die die Menschen immer auf später vertröstet haben. Zuerst musste der Klassenkampf überwunden werden, bevor man die klassenlose Gesellschaft verwirklichen konnte. Jede Generation wurde auf die nächste vertröstet. So ähnlich ist das auch in der katholischen Kirche.
Die Kirche auf einer Linie mit linken Ideologien, die keinen Trost im Hier und Heute bieten?
Küberl: Selbstverständlich hat soziale Gerechtigkeit nur dann einen Sinn, wenn sie im Hier und Jetzt spürbar ist. Und es wäre scheinheilig, wenn wir etwa Obdachlosen helfen würden, wieder ein Dach über dem Kopf zu bekommen, aber gleichzeitig nicht sagen würden, wie Obdachlosigkeit strukturell reduziert werden könnte. Die Geschichte der Sozialversicherung zeigt, dass die strukturelle Solidarität der individuellen weit überlegen ist, wenn es darum geht, Armut zu beseitigen. Deshalb ist das Aufzeigen von Verbesserungsmöglichkeiten Teil des Selbstverständnisses der Caritas. Man muss schon erkennen, dass wir große Lücken in unserem Sozialsystem haben. Es ist einfach so, dass in Österreich auch bei sinkenden Arbeitslosenzahlen am Ende fünfzig- bis siebzigtausend Menschen übrig bleiben, die niemand mehr braucht. Und wir haben Problem im Wohnungsbereich, weil es keinen sozialen Wohnbau mehr gibt.
Raidl: Für die Wohnbauförderung werden aber jährlich 2,2 Milliarden Euro ausgegeben.
Küberl: Da geht es um den geförderten Wohnbau, nicht zwangsläufig um sozialen Wohnbau. Die Wohnbauförderung kommt oft direkt dem Mittelstand zugute. In Österreich leben aber zehn bis zwölf Prozent der Bevölkerung in einer schwierigen sozialen Situation. Das ist für ein reiches Land wie Österreich bewältigbar, keine Frage. Man muss nur manchmal - und ich bin jetzt seit elf Jahren Caritas-Direktor - sehr lange reden, bis die bestehenden Probleme endlich erkannt werden.
Raidl: Man muss aber auch einmal über das Selbstverständnis der Caritas sprechen: Für mich ist die Caritas nichts anderes als ein liberales Feigenblatt einer ansonsten reaktionären Kirche. Die Kirche ist in Kernfragen - also bei Sexualität, Frauen, unehelichen Kindern, Ehescheidungen - erzreaktionär. Gleichzeitig hält sie sich aber den lieben Herrn Küberl, den ich sehr schätze, um bei Fragen wie Vermögensbesteuerung, Asyl oder Ausländern pseudo-liberale Positionen zu vertreten. Laut Gründungserklärung ist die Caritas eine Hilfsorganisation, aber der Herr Küberl äußert sich zu tagespolitischen Fragen, als ob es sich um einen übrig gebliebenen linken Kommunistenverein handeln würde.
Ist die Caritas tatsächlich nur instrumentalisiert für die Doppelstrategie einer ansonsten erzreaktionären Kirche?
Küberl: ( laut lachend ) Das ist eine sehr rustikale Bezeichnung des Herrn Raidl. Die Caritas ist natürlich in erster Linie eine Hilfsorganisation, aber wir lassen es uns nicht nehmen, Lösungsvorschläge für bestehende Probleme zu unterbreiten.
Raidl: Die Leistungen der Caritas als Hilfsorganisation sind ja unbestritten, aber warum tritt sie bei allgemeinen politischen Problemen immer nur als linker Umverteilungsverein auf? Warum höre ich nie Ideen für mehr Wirtschaftswachstum? Österreich gibt 30 Prozent aller öffentlichen Ausgaben für soziale Zwecke aus. Damit liegen wir in der EU an zweiter oder dritter Stelle. Gleichzeitig sind aber rund 13 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet. Wir geben nicht zu wenig Geld für Soziales aus, unser Problem ist die Treffsicherheit.
Küberl: Zuerst eine Klarstellung: Die Caritas ist nie für höhere Vermögenssteuern eingetreten, wir sehen aber ein Ungleichgewicht bei den Steuern auf Arbeit und Vermögenserträge, also Zinsen, Mieteinnahmen etc. Bleibt es dabei, dann bekommen wir bei den großen sozialen Fragen der Zukunft, wie Pflege und Existenzsicherung, Finanzierungsprobleme.
Raidl: Konkret bitte, so leicht kommen Sie mir jetzt nicht aus: Soll jetzt die Vermögensbesteuerung wieder eingeführt werden oder wollen sie die Besteuerung auf Vermögenserträge, die derzeit bei 25 Prozent liegt, erhöhen? Sie sagen immer, es gebe zu viel Armut, also sagen Sie bitte auch, was konkret gemacht werden soll.
Küberl: Auf dieses Glatteis begebe ich mich ganz sicher nicht.
Raidl: Dann dürfen Sie aber gar nichts sagen.
Küberl: Natürlich darf ich auf das Ungleichgewicht bei der Besteuerung aufmerksam machen!
In anderen Ländern, etwa in den USA, ist die Vermögensertragsbesteuerung doch höher als in Österreich.
Raidl: Aber warum? Weil es in den USA beispielsweise keine Umsatzsteuer gibt, hier sind die Gewichte völlig andere. In Europa legt man das Schwergewicht auf die Umsatz- sowie die Lohn- und Einkommenssteuern, während man in den USA sehr viel höhere Vermögens-, Grund- und Erbschaftssteuern hat. Das ist ein völlig anderes System - und deshalb kann man nicht hergehen und einfach sagen: Lassen wir alles beim Alten und setzen bei Vermögens- und Kapitalertragssteuer noch was drauf. Man kann die Leute nicht immer mehr belasten.
Küberl: Man muss aber sehen, dass Umverteilung Sinn macht: Gäbe es keine Sozialtransfers, würde die Armutsgefährdung in Österreich bei 42 Prozent liegen.
Raidl: Deshalb haben wir ja die soziale Marktwirtschaft.
Küberl: Natürlich, ich sage das auch nur, um zu zeigen, dass Umverteilung funktioniert. Derzeit haben wir rund eine halbe Million Menschen, die in Armut leben, und eine weitere Million, die armutsgefährdet sind. Diese Menschen lassen wir derzeit relativ weit zurück, damit es den anderen noch besser gehen kann. Hier sagt die Caritas: Moment! Wir müssen auf alle Menschen Rücksicht nehmen. Wenn Sie nun sagen, dass die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit eine Sache linker Positionen ist, dann muss ich sagen: Ich habe immer versucht, so links zu sein, wie es der verstorbene Papst Johannes Paul II. war. Ich habe es nur nie zustande gebracht. Unser Ziel muss es sein, das Absinken in Armut abzufangen und die Verweildauer in ihr abzukürzen.
Ein Mittel zu diesem Zweck könnte die Grundsicherung sein.
Raidl: Wenn die Grundsicherung dazu führt, dass alle bestehenden Instrumente wie Arbeitslosen-, Notstands- und Sozialhilfe zusammengeführt und vereinheitlicht werden, dann ist das eine gute Sache. Das große Problem ist aber doch, dass man durch ein Grundeinkommen die Menschen nicht länger dazu animiert, arbeiten zu gehen. Deshalb befürworte ich eine negative Einkommenssteuer, so dass jeder, der arbeitet und unter einem bestimmten Einkommensniveau liegt, eine negative Einkommenssteuer erhält. Beim jetzt diskutierten Modell, 726 Euro monatlich 14 Mal, stellt sich die Frage, wer anspruchsberechtigt ist. Eine Teilzeitkraft mit 500 Euro monatlich müsste nach diesem Modell aus dem Job aussteigen, denn sie würde über die Grundsicherung mehr bekommen. Man muss aber doch jeden Menschen in Arbeit bringen. Deshalb müsste man auch alle Zuverdienstgrenzen etwa beim Kindergeld möglichst rasch erhöhen.
Küberl: Wir beide sind in dieser Frage, wohl zum Entsetzen des Dr. Raidl, gar nicht so weit auseinander. Ich spreche übrigens lieber von Existenzsicherung. Dass diese an die Höhe der Mindestpension andockt, ist vernünftig. Notwendig ist auch eine Strukturreform der Sozialbürokratie: Das AMS soll zur einzigen Anlaufstelle werden und auch dafür sorgen, dass die Menschen wieder beschäftigungsfähig werden. Bei Personen mit Einkommen, die unter 726 Euro liegen, kann ich mir eine negative Einkommenssteuer sehr gut vorstellen.
Kritiker werfen dem Kapitalismus vor, sich von allen ethischen Werten losgesagt zu haben. Exemplarisches Beispiel war die Deutsche Bank, die an einem Tag einen Rekordgewinn, höhere Vorstandsgagen und die Kündigung tausender Arbeitnehmer verkündete.
Raidl: Mit Ethik können Sie überhaupt nichts erreichen - es gibt keine Wirtschaftsethik, sondern nur eine individuelle Ethik. Grundsätzlich macht es aber natürlich Sinn, auch in einem Jahr mit Rekordgewinnen weiter zu rationalisieren, damit die Firma auch in drei Jahren noch konkurrenzfähig ist. In der Verstaatlichten ging es nur darum, die Beschäftigung zu sichern - wohin das geführt hat, weiß man heute. Was wir aber häufig übersehen, ist, dass es auf Dauer unerträglich ist, wenn die Unternehmensgewinne und Dividenden ständig steigen, die Löhne aber nur laut Kollektivvertrag. Deshalb müsste man rasch eine von der Unternehmenslage abhängige Gewinnbeteiligung für die Arbeitnehmer einführen. Das würde die Verteilungsfrage entschärfen. Geschieht dies nicht, werden die Menschen früher oder später die Systemfrage stellen - wenn alle anderen Systeme versagt haben.
Küberl: Da stellt sich für mich aber die Frage, ob Sie, Herr Raidl, jetzt nicht das Feigenblatt einer sich ansonsten ganz anders gebenden Industrie sind?
Raidl: Erstens bin ich kein Feigenblatt und zweitens wird das in der Industrie intensiv diskutiert.
Küberl: Das ist ja eine Vorweihnachtsüberraschung. Ich halte das nämlich für gescheit.
Raidl: Aber all das hilft nur denjenigen, die Arbeit haben. Wir müssen uns aber den Kopf darüber zerbrechen, wie wir das Hauptproblem, die hohe Arbeitslosigkeit, bekämpfen. Die häufigste Ursache von Armut ist, sieht man einmal von Familien mit vielen Kindern ab, die Arbeitslosigkeit. Sozialpolitiker denken aber immer nur an neue Umverteilungsinstrumente, neue Steuern. Es wird - auch in den laufenden Koalitionsverhandlungen - viel zu wenig über wirtschaftspolitische Strategien gesprochen.
Küberl: Bei wirtschaftspolitischen Maßnahmen muss ich passen, hier fehlt der Caritas das Know how. Wir werden es uns aber auch in Zukunft nicht nehmen lassen, darauf hinzuweisen, wie das Soziale, - und damit auch das Gerechtere im Staat - weiterentwickelt werden kann.
Franz Küberl wurde 1953 in Graz geboren und ist seit Jahrzehnten im kirchlichen Bereich tätig. 1994 wurde er zum Direktor der Caritas der Diözese Graz-Seckau bestellt, ein Jahr später als erster Laie zum Präsidenten der Caritas Österreich gewählt. Der streitbare Kämpfer für mehr soziale Gerechtigkeit sieht als größte sozialpolitische Herausforderung der Zukunft die Existenzsicherung von gesellschaftlich an den Rand gedrängten Menschen.
Küberl genießt einen parteienübergreifenden hervorragenden Ruf, Medien bezeichnen ihn als "unbestechliches soziales Gewissen Österreichs". Mitunter eckt Küberl in den eigenen kirchlichen Reihen mit seiner offensiven Art an. Auch mit Ex-Innenminister Ernst Strasser focht er wegen des Umgangs mit Asylwerbern etliche Sträuße aus.
Der Caritas-Präsident ist Absolvent der Handelsschule und begann seine berufliche Laufbahn als Angestellter am LKH Graz. Aus der Katholischen Arbeiterjugend kommend, engagierte er sich stark in der Jugend- und Friedensbewegung, wurde Vorsitzender des Bundesjugendringes und 1986 Generalsekretär der Katholischen Aktion Steiermark.
+++ Claus Raidl ist seit 1991 Generaldirektor des Edelstahlunternehmens Böhler-Uddeholm AG und gilt als einer der erfolgreichsten Wirtschaftsmanager Österreichs. 1942 in der steirischen Stadt Kapfenberg geboren, studierte er an der Hochschule für Welthandel in Wien und absolvierte anschließend Studien und Praktika in Europa und Amerika. Er war 1981 Vorstandsmitglied der Wiener Holding, ab 1982 Vorstand der ÖIAG. 1986 wurde Raidl zum stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Voest-Alpine AG berufen. 2006 wurde Raidl zum Vorsitzenden des Kuratoriums der neu gegründeten Elite-Universität, des Institute for Science and Technology Austria (ISTA), gewählt.
Raidl gilt als enger wirtschaftspolitischer Berater von Bundeskanzler und ÖVP-Obmann Wolfgang Schüssel und als ein Freund klarer Worte. Deshalb finden seine Aussagen oft den Weg in die Medien. Erst jüngst hat er im Zusammenhang mit der Debatte über die Ursachen der überraschenden Wahlniederlage Schüssels vor einem Linksruck in der Volkspartei gewarnt. Der streitbare Böhler-Uddeholm-Chef ist verheiratet und Vater von drei Söhnen.