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Franziskus ist kein Illusionist

Von Max Haller

Gastkommentare

Die neue Enzyklika des Papstes - Nächsten- und Menschenliebe aus soziologischer Sicht.


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Ulrich Körtner, Professor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, hat in seinem Gastkommentar in der "Wiener Zeitung" am 8. Oktober eine bemerkenswerte Kritik an der neuen Enzyklika "Fratelli tutti" des Papstes veröffentlicht. Darin wirft er ihm vor, von einer "neuen Weltordnung" zu träumen, "die von Liebe, Geschwisterlichkeit und sozialer Freundschaft" geprägt sei. De facto sei jedoch der Appell an "politische Nächstenliebe und Zärtlichkeit" religiöser Kitsch. Man könne nicht alle Probleme der Welt nach dem Beispiel des barmherzigen Samariters lösen, der einem fremden Menschen selbstlos half.

Die Ethik des Politischen, so Körtner, sei nicht auf Liebe und Barmherzigkeit zu gründen, sondern auf "Gerechtigkeit, Herrschaft des Rechts und Sicherheit". Neben Konsens sei Politik auch durch Konflikt geprägt, die Floskel, dass "wir alle in einem Boot sitzen", sei trivial. Globalismus und Marktwirtschaft nur zu kritisieren und einen radikalen Pazifismus zu predigen, sei "nicht nur politisch illusorisch, sondern auch friedensethisch fahrlässig, weil sich der Papst die Welt schönredet und seine utopische Welt nicht vom Reich Gottes zu unterscheiden weiß". Es ist sehr erstaunlich, dass ein Theologe so scharf mit den Thesen des Papstes ins Gericht gehen kann. Liest man die päpstliche Enzyklika, so kommt man zu dem Schluss, dass Körtners Thesen eine fundamentale Missinterpretation darstellen. Dies kann man in Bezug auf vier Punkte feststellen:

1.Der Papst entwirft keine
utopische neue Weltordnung

Franziskus hegt keinerlei Illusionen über den realen Zustand der Welt. Er benennt sehr konkrete Probleme und Missstände: Finanzspekulationen bestimmen den Wert wichtiger Grundnahrungsmittel, zugleich werden bei uns Tonnen von Lebensmitteln weggeworfen; es gibt neue Formen sklavenähnlicher Ausbeutung von Arbeitskräften; auch innerhalb der reichen Ländern gibt es Ausschluss von Behinderten, Flüchtlingen und Zuwanderern; es gibt weltweiten Organ- und Menschenhandel.

Der Papst fordert keine neue Weltregierung, sondern stellt nur fest, die Zufälligkeit des Geburts- oder Wohnortes dürfe nicht allein über das Lebensschicksal von Menschen entscheiden. Er verlangt ganz konkrete, realistische Verbesserungen: wirkungsvollere internationale Institutionen (dabei nennt er explizit auch die UNO); die Beachtung des Grundrechts aller Völker auf Erhaltung und Fortschritt; Förderung der Entwicklung von Auswanderungsländern zur Vermeidung unnötiger Migration, aber auch Vereinfachung der Visaerteilung an Flüchtlinge bei schweren humanitären Krisen.

2.Weltweite Solidarität auf
Basis "universaler Liebe"

Für die Realisierung dieser Forderungen sieht der Papst als entscheidendes Element an, das biblische Prinzip der Nächstenliebe ernstzunehmen und zu weltweiter Solidarität, basierend auf "universaler Liebe", zu kommen. Dies erscheint tatsächlich schwer verständlich. Ist Liebe nicht per se auf direkte zwischenmenschliche Beziehungen beschränkt? Liebe kann man definieren als eine Haltung zum anderen, die diesen als Menschen akzeptiert und ihm, wenn er in Not ist, ohne Bedingungen, ja sogar gerne hilft. Es gibt vielfältige Formen der Liebe. Sie reichen von der tiefsten aller Formen, der Mutter-Kind- und der erotisch-sexuellen Liebe, die beide auch körperlich fundiert sind, bis hin zur Liebe zwischen Geschwistern, Freunden, Nachbarn und Verwandten, Angehörigen eines Dorfes oder Landes. So ist auch Liebe zu allen Menschen auf der Erde vorstellbar. Liebe basiert immer auf einer Kenntnis der Lebensbedingungen der anderen und einer Sympathie für diese.

Adam Smith, der Begründer der Ökonomie, argumentierte, Sympathie stelle die Grundlage für ethisches Handeln dar. Die modernen Kommunikationsmittel, aber auch die Möglichkeit des Reisens in alle Winkel der Welt ermöglichen heute auch Menschen in Europa Wissen über die Lebensbedingungen auf der ganzen Welt. Die große Spendenbereitschaft nach Katastrophen auch in weit entfernten Teilen der Welt zeigt, dass sehr viele mit Not und Elend der Menschen dort mitfühlen und bereit sind, ihnen zu helfen.

3.Gesinnungs- und
Verantwortungsethik

Körtners sozialtheoretischer Ideengeber scheint vor allem der große deutsche Soziologe Max Weber zu sein. Bei aller Hochachtung vor dessen Werken darf man aber auch die Probleme in dessen Theorie und Weltsicht nicht übersehen. Betrachten wir Webers vielzitierte Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik: Gesinnungsethiker ist demnach, wer hehre ethische Prinzipien unter allen Umständen durchsetzen will (nach Körtner wäre wohl Papst Franziskus ein Beispiel dafür). Das Gegenbild dazu ist der Verantwortungsethiker, der auch die Folgen seines Handelns in Betracht zieht. Diese Gegenüberstellung ist logisch irreführend, weil zwei Dimensionen vermischt werden: die Frage, ob jemand aufgrund einer ethischen Gesinnung handelt oder nicht, und ob er die Folgen seines Handelns in Betracht zieht.

Den radikalen Gesinnungsethiker (etwa einem Islamisten, der sich in einem vollbesetzten Bus selbst in die Luft sprengt) werden wir alle ablehnen, während wir einen Verantwortungsethiker (etwa Winston Churchill, der nie daran dachte, den Krieg gegen Adolf Hitler zu beenden, obwohl ihm bewusst war, welche Opfer dies von den Engländern fordern würde, was er auch öffentlich kommunizierte) bewundern. Es gibt aber auch verantwortungsbewusste Gesinnungsethiker (etwa Mahatma Gandhi, für den die indische Unabhängigkeit ein absolutes Ziel darstellte, für das er jedoch gewaltlos kämpfte) und Verantwortungsethiker, deren hehre Gesinnung höchst fraglich ist.

Webers Denken tendierte in Bezug auf Werte zu einem Nihilismus. Hier ist die Argumentation Körtners in Bezug auf die Aussagen der Enzyklika "Fratelli tutti" zum Krieg erhellend. Er wirft dem Papst vor, die Theorie des gerechten Krieges ad acta zu legen und zu einem radikalen Pazifismus zu neigen. Aber auch in diesem Punkt scheint mir der Papst realistischer und kritischer zu denken. So heißt es in der Enzyklika, jene, die Lösungen von Konflikten durch Krieg suchten, täten dies oft "aus hegemonialen Ambitionen, aus Machtmissbrauch, aus der Angst vor dem anderen". Krieg werde heute oft "unter allen möglichen angeblich humanitären, defensiven und präventiven Vorwänden, einschließlich der Manipulation von Informationen" geführt; für alle Kriege wird behauptet, sie seien "gerechtfertigt". Dies alles ist eine vollkommen zutreffende Charakterisierung der zahllosen, opferreichen Bürgerkriege in den neuen Staaten Afrikas von 1960 bis heute. Vor allem trifft sie auch zu auf alle Kriege westlicher Mächte, insbesondere der USA, vom Indochina- und Vietnam-Krieg bis hin zu den militärischen Interventionen in Afghanistan, im Irak und in Syrien.

Krieg ist heute, so der Papst weiter, ganz neu zu beurteilen aufgrund der Existenz und weiten Verbreitung von Atomwaffen. Er prangert zutreffend den internationalen Waffenhandel als eine Hauptursache dafür an. Der Papst negiert auch nicht die Existenz von Konflikten in der Politik, ruft jedoch dazu auf, unnötige, heftige Konflikte zu vermeiden. Die Beherzigung dieses ebenfalls nicht weltfernen Prinzips hätte zur Vermeidung extremer Konflikte etwa im Fall von Irland, Jugoslawien, der Ukraine und derzeit in Berg-Karabach beitragen können. Papst Franziskus schreibt, politische Größe zeige sich darin, "wenn man in schwierigen Momenten nach bedeutenden Grundsätzen handelt und dabei an das langfristige Gemeinwohl denkt".

4.Ist die Idee einer Welt
ohne Krieg eine Illusion?

Ist der Papst mit seinen Visionen einer Welt, in der universelle Nächstenliebe praktiziert wird, ein Illusionist? Körtner zitiert dazu Martin Luther King’s "I have a dream"-Rede. Diese beweist allerdings das Gegenteil: Die Rassentrennung in den USA wurde tatsächlich abgeschafft. Ist die Idee einer Welt ohne Krieg eine Illusion? Als Kronzeugen dafür kann man Immanuel Kant anführen. Der Philosoph argumentierte, eine solche sei denkbar, wenn alle Staaten eine bürgerlich-demokratische Verfassung hätten, das Völkerrecht auf einer Föderation freier Staaten werde, stehende Heere abgeschafft würden und sich kein Staat in die Angelegenheiten eines anderen einmischten. Wäre Kants These richtige, sollten demokratische Staaten keinen Krieg mehr gegeneinander führen. Dies war tatsächlich noch nie der Fall.