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Franzosen vor neuer Ära

Von Alexander U. Mathé

Analysen

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Die sozialistischen Vorwahlen am Sonntag sind von historischer Bedeutung für die französische Politik. Nicht, weil es a priori außerordentlich geschichtsträchtig wäre, zu wissen, wer nächstes Jahr versuchen wird, Nicolas Sarkozy seinen Posten als Präsident streitig zu machen. Sondern weil es den Beginn einer neuen Ära markiert, in der die Franzosen ihre Präsidentschaftskandidaten nach amerikanischem Vorbild küren. Der demokratische Prozess in der Grande Nation wird dadurch nachhaltig geändert.

Der erste Schritt wurde bereits bei der letzten Wahl getätigt. Es gab erstmals Fernsehdebatten der Kandidaten. Wahlberechtigt waren aber lediglich Parteimitglieder. Diesmal steht die Teilnahme allen wahlberechtigten Franzosen offen. Einzige Voraussetzung: die Entrichtung von mindestens einem Euro und das Bekenntnis zu den Werten der Republik und der Linken - welche auch immer damit im Speziellen gemeint sein mögen - per Unterschrift.

Noch ist man sich in Frankreich nicht sicher, was der neue Wahlmodus bringen wird. Die einen glauben an eine Intensivierung der politischen Debatte. Andere fürchten eine Kommerzialisierung der Politik, die den ideologischen Disput tötet. Klar ist, dass durch die Öffnung der Vorwahl für die Öffentlichkeit der ideologiekonservative Kern an Macht verlieren wird.

Noch nicht abzusehen ist, wie weit die Annäherung an das US-System gehen wird. Können sich die Franzosen künftig darauf gefasst machen, dass vor einer Wahl Scharen von Jugendlichen an ihre Tür klopfen werden und versuchen, sie von den Vorzügen des einen oder anderen Kandidaten zu überzeugen? Einzig eine geringe Wahlbeteiligung könnte das Vorwahlsystem noch in Frage stellen. Doch niemand zweifelt, dass sie hoch ausfallen wird. Die Sozialisten rechnen mit einer Million Wähler, die Meinungsforscher mit bis zu vier Millionen, was rund zehn Prozent der Wählerschaft wären.

Dass das Vorwahlsystem Zukunft hat, zeigt auch die mittlerweile positive Rezeption im konservativen Lager. Anfänglich hatte man dort die neue Kandidatenkür der Sozialisten verdammt. Doch diese Woche hat Premierminister François Fillon für die Präsidentenpartei UMP eine 180-Grad-Wendung vollzogen. Er nannte die Vorwahl einen "modernen Prozess, der für die Linke wie für die Rechte geeignet ist". Schon bei den nächsten Wahlen 2017 wollen auch die Konservativen auf diese Weise ihren Präsidentschaftskandidaten küren. Hat sich das System etabliert, ist eine Abkehr unwahrscheinlich. Denn eine Sache ist es, prinzipiell der Öffentlichkeit keine Wahlfreiheit einzuräumen, eine andere, sie ihr wegzunehmen.